In 126 Tagen wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt1. Wie vor jeder Wahl werde ich in den nächsten Wochen und Monaten Wahlprogramme lesen und mir meine Gedanken zu den Ideen und Profilen der Spitzenkandidat:innen der Parteien und zu denen meiner Wahlkreiskandidat:innen machen. Irgendwann werde ich dann entscheiden, welche Kreuze ich in welchen Kästchen auf welchen Wahlzetteln machen will.
In diesem Jahr werde ich einige meiner Gedanken hier auf dem Blog teilen – nicht um den einen oder die andere zu einer bestimmten Wahlentscheidung zu bewegen, sondern um einen Beitrag dazu zu leisten, dass möglichst viele von uns möglichst reflektierte Wahlentscheidungen treffen2.
Zum Anfang meiner Wahlgedanken: Heute ist der Tag des Grundgesetzes. Im vergangene Jahr habe ich zu diesem Tag einen Blogbeitrag dazu veröffentlicht, in welcher Gesellschaft ich gerne leben möchte3. Damals habe ich im Anklang an den ersten Artikel des Grundgesetzes geschrieben: “Die Menschenwürde des einen darf niemals und unter keinen Umständen gegen die Menschenwürde einer anderen aufgerechnet werden”.
An diese Grundüberzeugung möchte ich heute anschließen. Bei meiner Entscheidungsfindung für die Bundestagswahl wird es mich nicht bewegen, welche Partei am schnellsten und am gründlichsten mit den Plänen der anderen Parteien abgerechnet und sie in Grund und Boden geschimpft hat. Es wird mich auch nicht beeinflussen, welche Partei die größten Knäuel dreckiger Wäsche aus den Vergangenheiten der Kandidat:innen der anderen Parteien herausgeflöht hat. Und es wird mich erst recht nicht beeindrucken, welche Partei das größte Geschick darin an den Tag legt, die Kandidat:innen der jeweils anderen aufgrund irgendwelcher äußerlichen Merkmale oder Eigenschaften ad personam unfähig zu reden.
Im Gegenteil: Es ärgert mich, dass die wechselseitige Schlechtmacherei schon heute den öffentlichen Raum vermüllt, ehe überhaupt alle zur Wahl stehenden Parteien ihre Wahlprogramme verabschiedet und veröffentlicht haben. Gibt es irgendeinen Grund für die Annahme, dass Politiker:innen, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, ihre Konkurrent:innen und deren Ankündigungen kontiniuerlich und konsequent zu diskreditieren, am Ende bessere Politik für die Bürger:innen machen? Ich behaupte: Nein.
Und mehr: Es regt mich auf, wenn ausgerechnet die Menschen, die sich bei mir und gut 60 Millionen weiteren wahlberechtigten Bürger:innen darum bewerben, wichtige Aufgaben für unser gemeinsames Gemeinwesen zu übernehmen, sich darüber zu profilieren suchen, dass sie über ihre Konkurrent:innen herziehen. Das ist nicht nur billigste Bürger:innenfängerei, sondern es ist vor allem ein fatales Signal, wenn es symptomatisch dafür sollte, welche öffentliche Diskussions- und Debattenkultur diese Menschen für pflegenswert halten. Gibt es irgendeinen Grund für die Annahme, dass eine:r, der im Wahlkampf vor allem gegen die Konkurrenz wettert und dazu womöglich in die tiefsten Schubladen persönlicher Angriffe greift, als amtstragende:r Politiker:in dazu geeignet ist, komplexe und kontroverse Probleme unserere Gesellschaft im Dienste und Interesse aller Bürger:innen abgewogen und lösungsorientiert zu bearbeiten? Ich behaupte: Nein.
Das soll nicht heißen, dass ich inhaltliche Auseinandersetzungen zwischen Kandidat:innen – oder allgemeiner im politischen Raum – nicht begrüßen würde. Im Gegenteil: In der Feedback-Kultur gibt es die Regel, dass Kritik immer sachlich, situationsbezogen, und spezifisch sein muss (und nicht “personal, permanent, pervasive”4). Leider sind sachliche, situationsbezogene und spezifische Kontroversen oft anstrengend für alle Beteiligten, weil das Ergebnis in der Regel bedeutet, dass alle Beteiligten von dem abrücken müssen, was sie zu Beginn des Konflikts für richtig hielten. Aber genau das, behaupte ich, brauchen wir – nicht nur im Wahlkampf, sondern für unsere gemeinsame Zukunft. Und deshalb brauchen wir Politiker:innen, die sich dieser Anstrengung stellen.
Unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben und von religiösen oder politischen Anschauungen: Ich werde allen Kandidat:innen aufmerksam zuhören, die ihre Zeit und Energie darauf verwenden, uns Bürger:innen ihre Konzepte, Ideen, Pläne, Argumente, Überlegungen oder Entscheidungskriterien für die Zukunft unseres Gemeinwesens zu erläutern – und die sich dabei sachlich, situationsbezogen und spezifisch mit den Gedanken ihrer Mitbewerber:innen auseinandersetzen.
Ich werde niemanden wählen, der andere schlecht macht.
- Die offizielle Seite des Bundeswahlleiters ist hier zu finden; ganz unten auf der Seite ist auch der Countdown-Zähler [abgerufen am 22. Mai 2021].
- Die Beschäftigung mit der Frage, wie und warum Menschen in den unterschiedlichesten Zusammenhängen die Entscheidungen treffen, die sie treffen,, ist die große Leidenschaft meines Lebens – und selbst etwas dazu tun zu können, dass Menschen Entscheidungen so treffen, dass sie und andere damit gut leben können, ist das große Privileg meiner beruflichen Aktivitäten. Wer sich für das interessiert, was ich beruflich mache, kann das hier und hier in zwei älteren Blogbeiträgen nachlesen – oder natürlich auf meiner Webseite [abgerufen am 23. Mai 2021].
- Denjenigen, die sich möglicherweise fragen, welche Überzeugungen ich grundsätzlich vertrete, sei dieser Beitrag sehr ans Herz gelegt, denn ich würde ihn auch ein Jahr später noch in jeder Zeile genauso wieder schreiben.
- Der Gedanke geht zurück auf die Arbeiten von Martin Seligmann zur positiven Psychologie, nachzulesen z.B. in seinem Buch “Learned Optimism” (1991).
[…] wahlgedanken: wider die schlechtmacherei […]