Seit den Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz vom vergangenen Mittwoch1 habe ich – online wie offline – mit zahlreichen Freund*innen über die Sinnhaftigkeit der für November geplanten Corona-Eindämmungsmaßnahmen diskutiert. Dabei fiel mir auf: Selbst meine gebildete, humor- und verständnisvolle, ab- und aufgeklärte und überwiegend zu rationalem Denken ebenso wie zu emotionaler Anteilnahme fähige Lebensblase ist irgendwie unwirsch gestimmt – und ich mit ihr.
Wir alle sind im Frühjahr tapfer mit Kindern, Computern und allem anderen Kram zuhause geblieben, um unseren Beitrag zum #flattenthecurve zu leisten2. Wir alle haben seitdem auf diverse Urlaubsreisen, Familientreffen, Konferenzen und runde Geburtstagpartys verzichtet. Und wir alle – jede*r nach ihren oder seinen persönlichen Vorlieben und Kräften – versuchen weiterhin, unseren Beitrag zur Verbesserung der Lage in Deutschland unter den Bedingungen der andauernden Pandemie zu leisten.
Und trotzdem sagen wir plötzlich: “Wie kann es sein, dass die Politik jetzt…” – gefolgt wahlweise von: “… Sportvereinen, Fitnesstudios und Schwimmhallen den Betrieb untersagt, aber Schulen und Kitas geöffnet lässt?”, “… Restaurants, Cafés und Bars schließt, nachdem gerade die über den Sommer unendlich viel Zeit, Geld und Energie aufgewendet haben, um Hygienevorgaben zu erfüllen?”, “… touristische Übernachtungen verbietet, obwohl keinerlei Ansteckungen aus Hotels bekannt sind?”, “… Theater und Opernhäuser dicht macht, als ob wir nichts anderes wären als Bruttosozialproduktionsmaschinen?”.
Plötzlich reden wir über “die Politik”, nachdem wir gerade gestern noch betont hatten, dass wir alle als verantwortliche Bürger*innen selbst der Staat sind. Plötzlich empfinden wir Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, wo wir gestern noch konsequentes Handeln wahrgenommen hatten.
Also: Stopp, Halt, und zurück auf Los. Ich rufe mich zur Ordnung, denn natürlich bin ich als verantwortliche Bürgerin auch der Staat, und es hat noch nie geschadet nach der zugrunde liegenden Konsequenz in dem zu suchen, was zunächst ungerecht und ungereimt erscheint. Es hat gut zwei Tage gedauert, bis ich so weit war – aber jetzt habe ich meine Gedanken sortiert.
Die Misstimmung, die jetzt in meinem Umfeld um sich greift, stammt – so meine Hypothese – aus drei Versäumnissen der politischen Mandatsträger*innen, die zusammengenommen dazu führen, dass wir uns – je nach Charakter und Haltung – als Versuchskaninchen, als Sündenböcke oder als Stimmvieh fühlen. Die Versäumnisse sind: Eine unausgesprochene, weil unangenehme Wahrheit; eine verpatzte, weil vereinfachte Erklärung; und eine verpasste, aber große Chance – die wir allerdings mit etwas Glück und Geschick möglicherweise doch noch ergreifen können, wenn wir uns beeilen und uns an die eigentlichen Gebote der Stunde halten.
Die unausgesprochene Wahrheit:
Wir schützen die Gesellschaft – nicht jede*n einzelne*n
Es gibt bisher kein Medikament und keinen zugelassenen Impfstoff gegen das Corona-Virus. Das bedeutet auch: Niemand ist vor einer Ansteckung gefeit. Jeder, der andere Menschen trifft, kann sich potenziell anstecken. Jeder, der sich ansteckt, kann potenziell schwer erkranken, und jeder, der schwer erkrankt, kann möglicherweise in der Folge dieser Erkrankung sterben. Daraus folgt leider: Der einzige absolute Schutz gegen eine Ansteckung und ihre möglichen Folgen wäre komplette Isolation.
Allerdings: Komplette Isolation aller Menschen wäre – auch unter den heute verfügbaren Bedingungen digitaler Kommunikation – der Anfang vom Ende unserer Gesellschaft. Wir brauchen den direkten Umgang von Menschen mit Menschen – nicht nur in Krankenhäusern und Arztpraxen, in der Pflege, in Fürsorge-, Betreuungs- oder Bildungseinrichtungen, sondern auch an vielen Arbeitsplätzen, in der Verwaltung, in Kultur und Sport – oder schlichtweg aus Sehnsucht nach menschlicher Nähe im persönlichen Umfeld3.
Als Gesellschaft können wir deshalb nicht jede*n einzelne*n mit vollkommener Sicherheit davor schützen, sich anzustecken. Wir können lediglich Sorge dafür tragen, dass diejenigen, die sich anstecken und schwer erkranken, die bestmögliche Behandlung bekommen, und wir können das Risiko verringern, dass sich sehr viele anstecken. Das erste ist ein Gebot der Moral4, und die unmittelbare Schlussfolgerung daraus ist, dass wir sicherstellen müssen, dass wir freie Betten und verfügbares Personal in unseren Krankenhäusern haben5. Da immer ein bestimmter Prozentsatz der Infizierten eine Behandlung im Krankenhaus benötigt, bedeuten hohe und steigende Infektionszahlen, dass es immer weniger freie Betten und immer weniger verfügbares Personal in den Krankenhäusern gibt. Eine Überlastung unserer Krankenhäuser zu vermeiden, ist uns im Frühjahr gelungen – und muss uns jetzt wieder gelingen6.
Die unausgesprochene, weil unbequeme Wahrheit ist: Alle Hygienemaßnahmen, die seit dem Frühjahr etabliert worden sind – von Abstand und (Hände-) Hygiene über Alltagsmasken bis hin zum Kohortenprinzip in Schulen, zu Plexiglaswänden in Restaurants oder zu begrenzen Teilnehmerzahlen bei Fußballspielen -, dienen in erster Linie dazu, statistisch die Zahl der möglichen Infektionen insgesamt gering zu halten. Keine von ihnen ist dazu geeignet, das Ansteckungsrisiko für jede*n einzelne*n von uns vollständig zu beseitigen. Wer – beispielsweise aufgrund von Vorerkrankungen – auf Gesundheitsschutz für sich oder für andere angewiesen ist, fühlt sich damit leider niemals wirklich sicher – sondern bleibt zum Selbstschutz darauf angewiesen, eigene Maßnahmen zu ergreifen, vom Tragen einer FFP2-Maske über die Vermeidung öffentlicher Verkehrsmittel bis zur tatsächlichen Selbstisolation7.
Im Zusammenhang hiermit ist übrigens auch wichtig: Aktive Sorge um eine Bedrohung für unsere Gesellschaft ist kein Zeichen einer persönlicher Panikreaktion – und schon gar keine “Panikmache”. Niemand muss selbst kurz vor dem Hungertod stehen, um sich dafür einzusetzen, dass kein Mensch hungern muss. Niemand muss selbst verarmen, um sich dafür einzusetzen, dass kein Mensch unter der Armutsgrenze leben sollte. Niemand muss panische Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus haben, um sich dafür einzusetzen, dass möglichst wenige Menschen – und insbesondere auch: möglichst wenige Angehörige von Risikogruppen – sich anstecken.
Das semantische Versäumnis vieler politischer Mandatsträger*innen ist es dieser Tage allzu oft, den Unterschied zwischen Infektionsschutz für unsere Gesellschaft und Gesundheitsschutz für jede*n einzelne*n zu verwischen. Wer auf Gesundheitsschutz hofft oder angewiesen ist, fühlt sich als deshalb Versuchskaninchen, wenn sie oder er nichts als die Einführung von Infektionsschutzmaßnahmen erlebt. Und wer den Gesundheitsschutz einzelner Menschen und den Infektionsschutz der Gesellschaft gleichsetzt, empfindet nur allzu leicht alle Maßnahmen als überzogen, die ihn betreffen, obwohl er sich selbst nicht als gefährdet empfindet.
Die verpatzte Erklärung:
Wir schließen die Opernhäuser für die Gesundheitsämter – nicht gegen das Publikum
Vor dem Hintergrund der rasant steigenden Infektionszahlen der letzten Tage hat die Ministerpräsidentenkonferenz am vergangenen Mittwoch ein Maßnahmenpaket verabschiedet, dass diverse Bereiche des geselligen, sozialen, kulturellen und sportlichen Lebens für den gesamten November erneut zum Stillstand bringt8. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob Restaurants, Theater, Kinos, Fitnesstudios & Co jetzt schließen müssten, weil dort besonders viele Infektionen auftreten. Das erscheint vielen unplausibel, zumal aktuell rund drei Viertel der Neuinfektionen gar nicht auf einen konkreten Ausbruch zurückverfolgt werden können9.
Der eigentliche Kausalzusammenhang, der erklärt, warum diese Maßnahmen sinnvoll sind, ist aber deutlich komplexer – und leitet sich erst in mehreren Schritten aus der übergeordneten Zielsetzung ab, die Infektionszahlen insgesamt gering zu halten. Zu verstehen sind die Maßnahmen nach folgender Logik:
- Wir verringern die Infektionszahlen, wenn es uns gelingt, dass sich möglichst wenige Menschen neu anstecken.
- Die Ansteckungsgefahr ist am höchsten, wenn viele Menschen über längere Zeit in engen, schlecht belüfteten Räumen gleichzeitig heftig ein- und ausatmen10. Im Prinzip kann jede*r von uns nach seinen eigenen Möglichkeiten kontrollieren, wie viele anderen Menschen er oder sie wo trifft und was man gemeinsam unternimmt. Faustregel: Je weniger, je kürzer, je zugiger, je ruhiger und je weniger Alkohol, desto besser. Ideal wäre, wenn wir uns nur noch jeweils zu zweit zu gemeinsamer Schweigemeditation am Strand verabreden würden. Das tun wir aber nicht, und deshalb stecken wir uns dann eben doch an.
- Wenn wir uns anstecken, obwohl wir vorsichtig waren (oder auch: weil wir unvorsichtig waren), ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass wir möglichst wenige weitere Menschen anstecken. Deshalb gilt für infizierte Menschen die Quarantänepflicht. Und: Damit auch diejenigen gewarnt werden können, die wir möglicherweise angesteckt haben, ehe wir selbst wussten, dass wir infiziert sind, helfen die Gesundheitsämter dabei, alle diejenigen ausfindig zu machen, denen wir in den letzten Tagen und Wochen so nahe waren, dass sie sich hätten anstecken können.
- Rechenbeispiel: Wenn sich an einem Tag 20.000 Menschen in Deutschland neu anstecken, dann müsste jeder der rund 350 Gesundheitsämter an einem einzigen Tag die Kontaktpersonen von jeweils knapp 60 Infizierten finden und benachrichtigen. Wenn jeder der neu infizierten Menschen in der letzten Woche drei Arbeitskollegen, drei Familienmitglieder, einen alten Schulfreund, zwei Laufkameraden und eine Schachpartnerin getroffen hat, sind das insgesamt 600 Personen, die das Gesundheitsamt einem Tag benachrichtigen müsste. Wenn auch nur einer der neu infizierten zusätzlich zwei Mal beim Lieblingsitaliener mit 30 Sitzplätzen gegessen, einen Film im Programmkino mit 100 Gästen gesehen, ein Eishhockeyspiel mit 300 Zuschauern besucht und zwei Mal wegen einer Dienstreise im Flugzeug gesessen (je 120 Passagiere) hat, sind das zusätzlich leicht weitere 600 Kontakte für eine einzige Person. Wäre jeder der neu Infizierten ähnlich aktiv gewesen, müsste jedes einzelne Gesundheitsamt an jedem einzelnen Tag über 36.000 Personen finden und benachrichtigen.
- Wenn es den Gesundheitsämtern nicht gelingt, diese Menschen zu finden und zu benachrichtigen, so dass sie sich testen lassen können, um in Quarantäne zu gehen, falls sie infiziert sind, dann besteht die Möglichkeit, dass sie weitere Menschen anstecken, so dass sich das Virus – zunächst unentdeckt – weiter verbreitet.
- Damit das nicht passiert, ist es wichtig, dass es möglichst wenige Situationen gibt, in denen eine Person überhaupt viele andere Menschen gleichzeitig anstecken kann – jedenfalls so lange, bis die Infektionszahlen wieder auf einem Niveau sind, auf dem die Gesundheitsämter die Zahl der neuen Fälle abarbeiten können. Deshalb sind jetzt erstmal genau jene Orte geschlossen, an denen sich viele Menschen gleichzeitig aufhalten, dabei aber in immer wechselnden Zusammensetzungen11.
Die verpatzte, weil vereinfachte Erklärung muss also richtig heißen: Es geht bei den aktuellen Schließungen nicht darum, Situationen zu vermeiden, in denen sich nachweislich viele Menschen angesteckt haben (oder sich mit hoher Wahrscheinlichkeit anstecken werden), sondern es geht darum, Situationen zu vermeiden, in denen potenziell sehr viele Menschen zusammentreffen, die jeweils einzeln gefunden und benachrichtigt werden müssten, wenn dort eine infizierte Person anwesend gewesen wäre12. Das reduziert den Aufwand für die Gesundheitsämter massiv, was es wiederum realistisch macht, dass möglichst wenige Infektionen unentdeckt bleiben, was mit einigem Zeitversatz eine Eindämmung neuer Ansteckungen zur Folge haben dürfte13.
Die meisten Arbeitsplätze ebenso wie die weiterhin geöffneten Schulen und Kitas unterscheiden sich von Kinos, Sportveranstaltungen oder von der Gastronomie übrigens – jenseits aller Diskussionen über die Bedeutung von Bruttosozialprodukt, Bildung oder Betreuung – dadurch, dass in aller Regel dort jeden Tag dieselben Menschen zusammentreffen, so dass die Ermittlung und auch die Benachrichtigung über einen Corona-Fall sehr viel einfacher ist – im Zweifel ja sogar über einen Aushang an der Eingangstür14.
Das narrative Versäumnis vieler politischen Mandatsträger*innen ist es aktuell, diesen – zugegeben: komplexen – Kausalzusammenhang nicht in Ruhe und Ausführlichkeit so zu erklären, dass er für alle nachvollziehbar wird. Restaurantbesitzer*innen, Theaterdirektor*innen, Yogastudiobetreiber*innen ebenso wie ihr Publikum in Gestalt von Gourmets und Weintrinker*innen, Opernliebhaber*innen und Jazzfans, Tänzer*innen, Boxer*innen oder Judokas fühlen sich deshalb als Sündenböcke abgestempelt. Das wiederum ist – jenseits persönlicher Befindlichkeiten – vor allem deshalb ein Problem, weil es am Ende unser aller Bereitschaft senken dürfte, diese und zukünftige Maßnahmen mitzutragen.
Die verpasste Chance:
Wir könnten unsere Gesellschaft widerstandsfähiger machen – statt falsche Hoffnungen zu schüren
Um die Bevölkerung zur Mitwirkung bei den beschlossenen Maßnahmen zu motivieren, nutzen viele politische Mandatsträger*innen aktuell den Hinweis darauf, dass die Einschränkungen im November dazu führen würden, dass wir dann im Dezember “unbeschwert Weihnachten feiern” könnten15. Im Frühjahr war das entsprechende Zuckerbrot zur Peitsche der Schließungen die Ermöglichung des Sommerurlaubs – aus dem dann zahlreiche Reisende mit im Ausland aufgeschnappten Infektionen zurück kehrten. Beiden Argumentationen gemeinsam ist die klassische Parole von den harten Zeiten, die man gemeinsam durchstehen müsse, um dann “belohnt” zu werden – ganz wie schon immer im Krieg Soldaten und Zivilbevölkerung zum Durchhalten ermutigt wurden, weil am Ende ja irgendwann der großartige Sieg kommen würde.
Allerdings: Wir sind nicht im Krieg, und Deutschland ist keine Festung – und leider auch keine Insel. Anders als in Taiwan oder in Neuseeland wird es bei uns auch nach einer drastischen Senkung der Infektionszahlen nie gelingen, das Virus dauerhaft aus dem Land herauszuhalten. Dazu gibt es schon an den – glücklicherweise – offenen innereuropäischen Grenzen zu viel Austausch, und sobald Menschen wieder mehr reisen, bringen sie auch wieder mehr neue Ansteckungen mit zurück. Es ist deshalb eine Illusion zu hoffen, dass irgendeine Anstrengung in Sachen Corona heute irgendeine nachhaltige Erleichterung morgen zur Folge haben wird – mit der einzigen Ausnahme der Entwicklung und umfassenden Nutzung eines zugelassenen Impfstoffs. Solange es den Impfstoff nicht gibt, gilt: Auch wenn wir heute die Zähne zusammenbeißen, wird uns morgen keine gebratene Weihnachtsgans in den Mund fliegen, sondern nur ein neuer Schwung frischer coronaschwangerer Aerosole.
Oder – um ein vegetarierfreundlicheres Bild zu bemühen: Wenn wir – wie im zu Beginn der Pandemie hoch gelobten Artikel vom Hammer und vom Tanz16 – auf einen über Monate oder Jahre wiederkehrenden Wechsel zwischen Einschränkungen und Lockerungen setzen, tanzen wir Square Dance mit einer Fata Morgana der Wiederherstellung von “Normalität”, die sich jedes Mal in Staub auflöst, wenn wir uns ihr nähern.
Was aber wäre die Alternative? Wir bräuchten – endlich – eine wirkliche gemeinsame Anstrengung mit dem Ziel, unsere Gesellschaft gegenüber der Pandemie widerstandsfähig und robust aufzustellen: Schulen und Universitäten mit Lehr- und Lernkonzepten, die bei Bedarf flexibel zwischen Präsenz- und Fernunterricht und -betreuung hin- und herschalten17; hybride Arbeitsmodelle, die von einem Tag auf den anderen physische Meetings in den virtuellen Raum transferieren und umgekehrt; Restaurants, Clubs und Bars, die nicht nur Hygienevorschriften umsetzen, sondern Abonnementskonzepte anbieten, die Kontaktnachverfolgungen radikal vereinfachen; Theater, Opern, Kinos und Konzerthäuser, die nicht nur Streamingangebote für Schließzeiten anbieten, sondern in denen man mit Apps einchecken kann, die umfangreiche Bonusmaterialien für das zahlende Publikum bereit stellen und quasi nebenbei bei Corona-Fällen schnell alle Besucher*innen benachrichtigen können – und alles das gekoppelt an dieselben Inzidenzschwellen, bei denen jeweils von einem ins andere Modell umgeschaltet wird, so dass alle sich darauf einstellen können, was wann passiert.
Ein Nebeneffekt solcher Konzepte könnte sogar sein, dass jede*r sich klarer darüber wird, welche Folgen es für ihr oder sein persönliches Umfeld haben wird, wenn die Infektionszahlen zu schnell steigen – und damit vielleicht doch auch ihren oder seinen eigenen Beitrag zur Kontrolle der Verbreitung des Virus leistet, um sich selbst und anderen viele Alltags-, Arbeits- und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten zu erhalten.
Es ist ein motivatorisches Versäumnis zu vieler politischer Mandatsträger*innen, dass sie uns mit (falschen) Hoffnungen zu becircen suchen, statt uns die Wahrheit von der longue durée der “Corona-Zeit” zuzumuten – um dann gemeinsam mit uns an Lösungen für eine robuste Gesellschaft der Zukunft zu arbeiten, die nicht nur diese Pandemie durchsteht, sondern auch für kommende Herausforderungen besser vorbereitet ist. An Expert*innen fehlt es in keinem Bereich, auch nicht an solchen, die freiwillig ihre Zeit und ihr Wissen zur Verfügung stellen würden. Wenn wir aber nicht nur nicht gefragt werden, sondern mit unrealistischen Weihnachtsmärchentraumgespinsten abgespeist werden, dann fühlen wir uns als dummes Stimmvieh abserviert – und ärgern uns natürlich über diejenigen, die uns anscheinend nicht für fähig halten, um mit unangenehmen Wahrheiten, komplexen Erklärungen und schwierigen Problemen konstruktiv umzugehen, a.k.a. “die Politik”.
Die Gebote der Stunde
Eine Prognose über die mögliche Erweiterung von Kommunikations-, Denk- und Handlungsspielräumen politischer Mandatsträger*innen unter den Zwängen von Partei- und Koalitionspolitik, Wahlkampf- und Karriereinteressen sowie Lobby- und Medienanforderungen18 möchte ebenso wenig abgeben wie eine Prognose über die morgigen Infektionszahlmeldungen.
Aber: Aus den obigen Überlegungen ergeben sich für mich recht zwanglos sechs Gebote für ein Leben mit der Pandemie, die – ganz unabhängig von den gerade geltenden Regeln und Verordnungen – für jede*n einzelne*n von uns Sinn machen und denen wir folgen können, ohne dafür auf Vorgaben von irgendwo warten zu müssen:
- Du sollst Dich nicht anstecken! Was brauchst Du selbst – gegeben Deine persönliche Situation und Dein persönliches Umfeld – um Dich hinreichend sicher vor einer Corona-Ansteckung zu fühlen? Trägst Du auf der Straße eine FFP2-Maske? Vermeidest Du öffentliche Verkehrsmittel? Triffst Du Dich in der Freizeit nur mit zwei ausgewählten Freund*innen und gehst nur in den einen Supermarkt Deines Vertrauens?
- Du sollst andere nicht anstecken! Was tust Du, damit Du andere nicht ansteckst, falls Du infiziert sein solltest, ohne es zu wissen? Trägst überall da einen Mund-Nasen-Schutz, wo Du anderen Menschen nahe kommen könntest? Vermeidest Du nicht nur Kellerpartys, Chorproben und Fangesänge, sondern womöglich auch lange Dinnertermine in schlecht belüfteten Restaurants, Zug- oder Flugreisen und gesellige Spieleabende? Achtest Du darauf, dass die Räume, in denen Du Dich mit anderen gemeinsam aufhältst, regelmäßig durchgelüftet werden?
- Du sollst die Zahl Deiner Kontakte kennen! Wie behältst Du einen Überblick über die Anzahl der Menschen, mit denen Du in ansteckungsträchtigen Situationen zusammentriffst? Weißt Du, ob Du in der Woche 10, 100 oder 1.000 anderen Menschen unter aerosolverteilungsrelevanten Umständen begegnet bist? Wieviele davon kannst Du einfach selbst kontaktieren? Wieviele müsste ein Gesundheitsamt suchen, finden und kontaktieren? Nutzt Du die Corona-Warn-App, um die Kontaktverfolgungs- und Benachrichtigungsprozesse zu erleichtern?
- Du sollst selbst die Veranwortung für Deine Bedürfnisse übernehmen! Weißt Du, was Dich beruhigt, was Dir gut tut und was Dich glücklich macht? Weiß Dein persönliches Umfeld, was Du Dir wünschst, worüber Du Dir Sorgen machst oder was Dich wütend macht? Weiß Dein berufliches Umfeld, unter welchen Bedingungen Du arbeiten kannst und willst? Wissen die zuständigen öffentlichen Stellen, was Du brauchst – so dass sie Dir helfen können, an notwendige Unterstützung zu kommen? Kannst Du die sprichwörtlichen drei Wünsche so klar formulieren, dass eine gute Fee sie tatsächlich erfüllen könnte?
- Du sollst anderen helfen! Weißt Du, was den Menschen um Dich herum fehlt, was sie vermissen oder was sie schmerzt? Tust Du, was Du tun kannst, um zu helfen? Weißt Du, welcher Nachbar sich nicht vor die Tür traut und jemanden braucht, der für ihn einkauft? Weißt Du welchen Freunden im erneuten #stayathome das Dach auf den Kopf fällt? Weißt Du, wer jemanden brauchst, der ihm zuhört? Weißt Du, wem es jetzt nützt, wenn Du einen Restaurant- oder Theatergutschein kaufst? Bist Du bereit, anderen zu helfen, obwohl Du vielleicht selbst gerade nicht alles hast, was Du brauchst?
- Du sollst vorausdenken! Wie kannst Du für Deine Familie und mit Deinen Freunden die nächsten Wochen und Monate so planen, dass Ihr nicht von den Irrungen der Pandemieentwicklung abhängig seid? Wie kannst Du Deinen Arbeitsplatz und Deine Freizeitaktivitäten so (um-) gestalten, dass Du mit wenig Aufwand zwischen verschiedenen Einschränkungsszenarien wechseln könntest? Wo kannst Du Dich in Deinem unmittelbaren Umfeld oder darüber hinaus engagieren, um unsere Gesellschaft insgesamt widerstandsfähiger zu gestalten?
Vor gut zehn Tagen sagte Sandra Ciesek im Corona-Podcast des NDR: “[Das Virus] ist nichts, dem wir hoffnungslos ausgeliefert sind: Wir verbreiten ja das Virus. Das Virus braucht immer einen Wirt und das sind wir. Der Verlauf der Pandemie ist auch ein Ausdruck des menschlichen Verhaltens”19.
In demselben Sinne gilt auch: Der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Virus ist nichts, dem wir hilflos ausgeliefert sind. Wir selbst sind die Gesellschaft, und die Summe unseres Verhaltens bestimmt am Ende, was um uns herum und mit uns passiert. Ob wir dem Virus zeigen können, dass es die Rechnung eben mit dem falschen Wirt gemacht hat – wie in dem schönen Auszug aus Angela Merkels Regierungserklärung vom Donnerstag, in dem sie Mai Thi Nguyen-Kim zitiert20 -, liegt auch weiterhin in unserer eigenen Veranwortung.
Lasst uns also den November nutzen, um – jede*r nach ihren oder seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten – dieser Verantwortung gerecht zu werden, statt uns in Mecker- und Jammertiraden über die eventuelle Unangemessenheit bestimmer Maßnahmen oder über temporäre Einschränkungen unserer persönlichen Lebensgestaltung zu ergehen.
Oder – um passend zum heutigen Reformationstag mit einem Zitat zu enden, das zumindest dem Internet zufolge von Martin Luther stammen sollte: “Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern. Aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern”21.
- Nachzulesen auf der Seite der Bundesregierung hier [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Für mehr dazu vgl. z.B. hier [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Mehr Gedanken von mir aus dem Frühjahr dazu hier [abgerufen am 30. Oktober 2020]. Ergänzend: “Die” Wirtschaft ist für mich in diesem Sinne nichts als eine Ausprägung der Gesellschaft. Die vielfach getätigte Gegenüberstellung “Gesundheit oder Wirtschaft” halte ich aus vielen Gründen für ungeeignet zur Lösung nicht nur der Corona-Herausforderungen – dazu vielleicht bei Gelegenheit an anderer Stelle mehr.
- Darüber habe ich hier nachgedacht [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Die Informationen hierüber werden seit dem Frühsommer im DIVI-Intensivregister jeweils tagesaktuell zusammengetragen, nachzuschlagen hier [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Dabei geht es bekanntermaßen nicht “nur” darum, dass alle Corona-Patienten die bestmögliche Behandlung erhalten, sondern auch darum, dass Menschen mit anderen Krankheiten in den Krankenhäusern den Platz und die Aufmerksamkeit finden, die sie beispielsweise nach einem Unfall, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall oder bei einer Krebstherapie benötigen.
- Natürlich gibt es auch Maßnahmen, die einen besonderen Beitrag zum Schutz von Risikogruppen leisten, wie beispielweise die Hygiene-, Besuchs- und Testregelungen für Pflege- oder Altenheime. Auch diese können aber – wie die entsprechenden Ausbrüche der letzten Wochen gezeigt haben – niemals Ansteckungen komplett verhindern.
- In der jüngsten Hamburger Version der entsprechenden Rechtsverodnung heißt es lapidar: “Veranstaltungen, deren Zweck in der Unterhaltung eines Publikums besteht, sind untersagt” [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Vgl. dazu die Zahlen jeweils dienstags im Bericht des RKI, z.B. für den 27. Oktober 2020 hier [abgerufen am 30. Oktober 2020]. Dort heißt es u.a.: “Nur etwa ein Viertel der insgesamt gemeldeten COVID-19 Fälle kann einem Ausbruch zugeordnet werden. Von allen Fällen in Ausbrüchen entfallen ca. 35% auf kleinere Ausbrüche mit einer Größe von 2-4 Fällen pro Ausbruch”.
- Kürzlich hervorragend illustriert in diesem Artikel [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Unlogisch erscheint vor diesem Hintergrund allerdings, dass Gottesdienste weiter stattfinden dürfen.
- Nicht weiter verfolgt habe ich die – gleichermaßen relevante und interessante – Frage, ob eine solche Schließungslogik dritter Ordnung durch das Infektionsschutzgesetz hinreichend abgedeckt ist. Wer hierzu eine fundierte juristische Einschätzung abgeben kann, ist herzlich eingalden, die hier in den Kommentaren zu teilen.
- Dieser Wirkzusammenhang wurde – in anderen Worten – im Ansatz im Beschluss der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 14. Oktober 2020 formuliert [abgerufen am 30. Oktober 2020]. Dort hieß es: “Ziel allen staatlichen Handelns in den kommenden Wochen wird es also bleiben, die Infektionsdynamik in Deutschland unter Kontrolle zu behalten. Der Maßstab dafür ist, dass die Inzidenz in allen Regionen Deutschlands unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche liegt oder nach Ausbrüchen zügig wieder unter diese Schwelle gesenkt wird. Für letzteres ist die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Hotspotstrategie das geeignete Mittel. Höhere Infektionszahlen würden erst die Kontaktnachverfolgung unmöglich machen, was zur Beschleunigung des Infektionsgeschehens führen würde. Ein weiterer Anstieg würde dann zur Verknappung der Testkapazitäten führen mit weiteren negativen Effekten auf die Infektionskontrolle. Aufgrund der gut ausgebauten Krankenhausinfrastruktur wäre mit einer Überlastung des Gesundheitswesens erst danach zu rechnen, allerdings bereits mit erheblichen Folgen für die Gesundheit vieler Betroffener.”
- Aus meinem persönlichen Umfeld sind mir mehrere Fälle bekannt, in denen tatsächlich beispielsweise die Quarantäne in Schulen mit Corona-Fällen durch die Schulleitung vor Ort empfohlen wurde – und wo die entsprechenden formalen Schreiben des Gesundheitsamts erst mit mehr als drei Wochen Verspätung eintrafen.
- So vielfach gehört und gelesen in den letzten Tagen, aber leider ohne eine einzige Quelle zu notieren. Etwas gedämpfter die Formulierung von Peter Tschentscher im Zitat im Hamburger Abendblatt vom 2. November 2020: “Je erfolgreicher wir sind, desto größer ist die Chance, dass wir dann auch mit etwas geringeren Beschränkungen auf das Weihnachtsfest zugehen können” (zitiert aus der gedruckten Ausgabe, S. 1), und heute auch die Formulierung von Angela Merkel vor der Bundespressekonferenz, man könne möglicherweise auf einen “eträglichen Dezember” hoffen, zitiert nach der Videoaufzeichnung auf der Seite des Spiegel [abgerufen am 2. November 2020].
- Nachzulesen hier [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Hierzu empfehle ich gerne nochmals diesen Blog-Artikel von Ina Döttinger vom Frühjahr [abgerufen am 30. Oktober 2020].
- Zur aktuellen Rolle der Medien finde ich diesen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung von vor einigen Tagen nach wie vor lesenswert [abgerufen am 31. Oktober 2020].
- Zitiert nach diesem Artikel auf der Homepage des NDR [abgerufen am 31. Oktober 2020].
- Auf deren Twitter-Account anzusehen hier [abgerufen am 31. Oktober 2020].
- Ich freue mich, falls jemand eine Originalquelle hierzu beisteuern kann, die ich in meiner kurzen Recherche leider nicht finden konnte.
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