Heute ist der 23. Mai 2020[1]. Heute vor 71 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft[2]. Bis heute ist es der würdevolle Leitstern, der unserer Gesellschaft Orientierung gibt – auch und gerade in der aktuellen Coronakrise mit ihrer “Zumutung für die Demokratie”[3]. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes legten in ihm die Grundlage für unser Zusammenleben in einer friedlich-demokratischen Gesellschaft – für “einen Bau […], der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll[te]”[4].
In welchem “Bau” wollen wir leben?
Die Frage, in welchem “Bau” wir miteinander leben wollen, stellt sich jetzt gerade mit erneuter Schärfe und Deutlichkeit. Die Coronakrise hat menschenunwürdige Praktiken an den Rändern unserer Gesellschaft schonungslos offengelegt. Wir alle wissen jetzt, unter welchen inakzeptablen Bedingungen Erntearbeiter*innen, Angestellte in fleischverarbeitenden Betrieben oder Mitarbeiter*innen auf Kreuzfahrtschiffen beschäftigt werden. Die Coronakrise hat auch lange für unmöglich gehaltene Veränderungen beschleunigt. Wir alle haben jetzt selbst erfahren, dass Arbeiten im “Home Office” sehr wohl effektiv und effizient sein kann (und in vielen Unternehmen sogar zu höherer Produktivität führt) oder dass Lernen in vielen Situationen über digitale Medien genauso gut funktioniert wie der klassische Präsenzunterricht – und manchmal sogar besser.
Gleichzeitig gibt es eine lautstarke Kakophonie von Stimmen, die jetzt vor allem fordern, dass sie irgendetwas zurück bekommen, was sie “vor Corona” gewohnt waren: Unternehmen wollen wieder Kunden, die kaufen; Gaststätten wollen wieder Gäste, die essen und trinken; Theater, Clubs, Künstler*innen und Konzertveranstalter wollen wieder Besucher, die klatschen; Familien wollen wieder Schulen und Kitas, die Kinder unterrichten und betreuen[5]; Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen Angst um sich oder um die haben, die ihnen nahe stehen, wollen wieder unbeschwert anderen nahe sein können. Alle diese Wünsche sind nachvollziehbar und haben innerhalb des jeweiligen Universums der Wünschenden mit Sicherheit ihre Berechtigung.
Allerdings: Was wäre, wenn es ein Fehler wäre, jetzt einfach nur zu wünschen, dass alles wieder wäre, wie es war? Oder – was auch nur eine etwas raffiniertere Variation auf dasselbe Thema ist – zu erwarten, dass sich jetzt demnächst ein “New Normal” einstellt, in dem man sich dann wieder einrichten kann, wie man im “Old Normal” eingerichet war? Was wäre, wenn wir diesen Augenblick nutzten, in dem alles nicht mehr ist, wie es war, um ernsthaft darüber nachzudenken, was sein sollte? Was wäre, wenn wir uns jetzt fragten, in welcher Gesellschaft wir leben wollen? Was wäre, wenn wir uns jetzt fragten: Was ist Zukunft?
Incipe!
Zukunft ist die bewusste Entscheidung von Menschen, sich in ihrem Handeln nicht von vermeintlichen Zwängen aus Vergangenheit und Gegenwart leiten zu lassen[6]. Bewusst ist diese Entscheidung, wenn sie nicht durch Umstände erzwungen oder gewissermaßen aus Versehen getroffen, sondern auf Basis nachvollziehbarer rationaler und emotionaler Argumente im Austausch mit anderen entwickelt und in Übereinstimmung mit ihnen gefällt wird. Vermeintlich sind die Zwänge der Vergangenheit und der Gegenwart, wenn die aus ihnen resultierenden Beschränkungen nicht auf Naturgesetzen oder reiner Logik beruhen, sondern auf Gewohnheit, Arroganz oder Ignoranz. Tatsächlich sind Faulheit, Selbstverliebtheit und Feigheit vermutlich nach wie vor die wichtigsten Gründe dafür, dass viele von uns zeitlebens davor zurückschrecken, Zukunft zu gestalten. Und: Es ist tatsächlich schwer für uns, uns aus den Zwängen der Vergangenheit und der Gegenwart herauszuarbeiten, die uns schließlich beinahe zur Natur geworden sind und die wir lieb gewonnen haben.
Allerdings: Wir stehen jetzt an einer Schwelle, an der Zukunft möglich ist. Und wir dürfen die Gelegenheit nicht verpassen, diese Zukunft zu gestalten. Dabei kann uns helfen, was wir in und aus der Coronakrise gelernt haben und noch lernen werden. Auf das von Kant zitierte: “Sapere aude” folgt im horazischen Brief das imperativische: “Incipe!”[7]. Da eine den Anfang machen muss, fange ich an und schreibe hier auf, in welcher Gesellschaft ich gerne leben möchte – mit und nach dieser Pandemie, und in Vorbereitung auf alle anderen globalen Verwerfungen, die uns demnächst ereilen könnten.
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die…
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die…
… in allen Fragen, die den Schutz und die Sicherheit ihrer Mitglieder betreffen, moralisch-ethisch Kriterien heranzieht – und nicht utilitaristische, relativistische oder gar monetaristische[8]. Mit anderen Worten: “Die Würde des Menschen ist unantastbar” – und die Menschenwürde des einen darf niemals und unter keinen Umständen gegen die Menschenwürde einer anderen aufgerechnet werden. Dass wir als Gesellschaft in diesem Sinne handeln können, haben wir in dieser Krise erlebt – das kann und sollte uns gemeinsam stärker machen.
… allen ihren Mitgliedern einen möglichst großen Freiraum gibt, um die jeweils für sie passende Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Familien, Freunden und Zeit für sich selbst, Konsum und Genügsamkeit, Bewegung und Ruhe, Engagement und Zurückhaltung zu finden. Oder auch: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt […]”. Dass hier vieles anders laufen kann als in der Vergangenheit, haben wir beispielsweise beim Thema “Home Office” gerade gelernt, bei dem auch hartnäckige Skeptiker*innen plötzlich eine Kehrtwende vollzogen haben. Wir sehen aber auch, dass viele Menschen in dieser Krise in plötzliche Existenznöte geraten – und dass andere für die harte und wichtige Arbeit, die sie für uns leisten, in keiner Weise angemessen entlohnt werden. Vielleicht kann uns dies ein Anstoß sein, über Grundeinkommensmodelle nachzudenken? Oder / und darüber, wie wir den Beitrag einzelner zu unserer Gesellschaft materiell und immateriell bewerten? Hier wünsche ich mir einen breiten Austausch und viele kreative Ideen.
… Kompetenzen, Expertise und die Erfahrung von Fachleuten und Wissenschaftler*innen schätzt – und mit deren Beurteilungen verantwortungsvoll umgeht. Eine epidemiologische Modellrechnung ist ebensowenig eine “Meinung” wie eine Viruslastbestimmung bei Kindern, Sänger*innen oder Jogger*innen. Meinungen – die selbstverständlich jederzeit “jeder […]| in Wort, Schrift und Bild frei äußern und […] verbreiten […]” kann, sind Schlussfolgerungen, die man auf Basis solcher Beurteilungen zieht (oder eben nicht). Eine Widerlegung von Beurteilungen aus der Feder von Fachleuten oder Expert*innen hingegen ist nur möglich, wenn man sich in die detailreichen und methodenstrengen analytischen Tiefen derselben Disziplin begibt, die diese Beurteilungen hervorgebracht hat. Wir hatten und haben in dieser Krise das Glück, auf viele fundierte wissenschaftliche Einschätzungen quasi in “Echtzeit” zugreifen zu können. Das sollten wir uns merken und auch weiterhin beherzigen.
… in ihrer Lösungs- und Entscheidungsfindung Ergebnisse und Perspektiven aus unterschiedlichen Expertendisziplinen und gesellschafltichen Gruppen heranzieht und zu einer Gesamtschau verflicht, die der Komplexität eines modernen, ausdifferenzierten Miteinanders gerecht wird. “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus” – aber es mag sein, dass die Vielfalt unter den Mitgliedern unserer Gesellschaft mittlerweile erfordert, dass wir neue Wege finden, auf denen wir unsere Bedürfnisse, Wünsche, Ansichten, Interessen und Forderungen in den politischen Diskussionsprozess einbringen. Und: Es mag auch sein, dass wir weniger danach suchen müssen, “wie es jetzt wird”, sondern mehr darüber nachdenken müssen, wie wir uns immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen können. Das alles wird einerseits erleichtert durch die kurztaktigen Interaktionsmöglichkeiten im digitalen Raum – andererseits erschwert durch die Extremisierungseffekte eben dieses digitalen Raums. Trotzdem: Wir müssen als Gesellschaft in unseren Aushandlungsprozessen der Komplexität der Fragen Rechnung tragen, die wir lösen müssen[9] – und das geht nur miteinander, nicht gegeneinander. Auch das: “Wie genau?” dorthin müssen wir miteinander erringen – und zwar eiligst[10].
… ein besonderes Augenmerk darauf legt, die zu unterstützen, die selbst unsere Zukunft sind: Unsere Kinder. Die Menschheit hat die einzigartige Begabung, Wissen und Erfahrungen von einer Generation an die nächste weitergeben zu können, so dass nicht jede Generation das Rad neu erfinden und das Internet neu programmieren muss. “If each generation had to learn everything anew, then even a crude iron shovel would have been forever beyond our reach”, schreibt Toby Ord[11]. “Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht”, und: “Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft” – das beides mag zu kurz greifen in einer Gesellschaft, in der keine einzige Familie alleine mehr in der Lage wäre, eine Eisenschaufel herzustellen. Wie aber entscheiden wir, wo, von wem, was und wie unsere Kinder lernen? Wie geben wir ihnen als Gesellschaft die emotionale Wärme, um sich aufgehoben zu fühlen, die rationalen Werkzeuge, um sich in der Welt zurecht zu finden, und die mentale Stärke, die Welt auf ihre Art neu zu erfinden und zu verändern? Die Coronakrise ist eine Krise der Bildungs- und Betreuungsysteme, mit denen wir uns – oft: mehr schlecht als recht – arrangiert hatten – und wir dürfen es auf keinen Fall riskieren, dass diese unter dem Druck der Krise in vollständige Wirkungs- und Nutzlosigkeit zerbröseln. Wann wenn nicht jetzt könnten wir es besser machen[12]?
… aus Sorge um ihre Zukunft nachhaltig denkt, entscheidet und wirtschaftet, nicht zuletzt in den jetzt unmittelbar bevorstehenden Entscheidungen über staatliche Unterstützung für einzelne Industrien oder Unternehmen. “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere […]”, ist und bleibt eine vorrangige Aufgabe unserer Zeit. Der Kampf gegen den Klimawandel darf über die aktuelle Krise nicht aus dem Blick geraten. Im Zweifelsfall müssen wir die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten “alter” Industrien jetzt als Chance sehen, den Wandel dieser Industrien in Richtung nachhaltigen Wirtschaftens wirksam zu begleiten – und nicht aus Verzagtheit Strukturen wieder aufbauen, die eigentlich schon längst überholt hätten sein sollen.
Der Mühe wert
Klima und Kinder, Komplexität und Kompetenz, Persönlichkeitsentfaltung und Menschenwürde: Das sind meine Wünsche für die Prioritäten der Gesellschaft in der ich leben möchte.
Dabei ist mir schmerzlich bewusst, dass die Auseinandersetzung mit diesen Prioritäten von uns als Individuen und als Gemeinschaft viel Geduld und Gelassenheit erfordert – und dass gerade jetzt viele von uns davon viel zu wenig haben. Die Coronakrise ist auch eine Krise unserer psychologischen Stabilität und emotionalen Resilienz – und wer sich unter Druck fühlt, ist selten in der Lage, die Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart als Schatten zu erkennen und sich vor ihnen nicht zu fürchten.
Trotz alledem: Es ist jeder Mühe wert, jetzt gemeinsam darüber nachzudenken, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, denn damit tun wir uns als Gesellschaft den größtmöglichen Gefallen, weil wir unsere Zukunft so gestalten können, dass sie für uns lebens- und liebenswert wird.
Lasst uns gerade jetzt nicht am Einsatz sparen, nicht an der Anmut, nicht an der Mühe, nicht an der Leidenschaft und nicht am Verstand – denn nur indem wir unsere Gesellschaft verbessern, achten, schützen und stärken wir sie für kommende Zeiten.
[1] Inzwischen sind nach den Zählungen der Johns Hopkins Universität weltweit über fünf Millionen Menschen nachgewiesenermaßen mit dem Coronavirus infiziert, und mehr als 335.000 infizierte Menschen sind inzwischen gestorben. Vgl. die täglich aktualisierten Angaben auf dieser Seite [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[2] Der Text des Grundgesetzes ist online hier zu finden [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[3] Die exakte Formulierung von Angela Merkel lautet: “Dieses Virus ist eine Zumutung für unsere Demokratie”, nachzuhören z.B. in diesem Video [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[4] So formuliert vom damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, hier zitiert nach dem Vorwort von Norbdert Lammert in der Ausgabe des Grundgesetzes in der dtv bibliothek, München 2019, S. 9.BACK TO TEXT
[5] Hier reihe ich mich ausdrücklich ein mit dem “Offenen Brief”, den wir in der letzten Woche gemeinsam mit mehr als dreißig Erstunterzeichner*inenn an den Ersten Bürgermeister, die Zweite Bürgermeisterin und den Senat der Stadt Hamburg geschickt haben. Der Brief ist hier zu finden [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[6] Dieser Satz – und die folgenden – entspringen natürlich meiner allergrößten Verehrung für diesen Text von Immanuel Kant (1784) – in einfacher lesbarer Version auch hier [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[7] Der vollständige Satz in Brief I, 2, 40 lautet: „Dimidum facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe“.BACK TO TEXT
[8] Dazu habe ich am 2. April 2020 ausführlicher gebloggt – nachzulesen hier [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[9] Ein schöner, persönlicher Text zur Frage der Bewältigung der Komplexität von Katrin Suder und Katja Kraus ist hier [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[10] Die Frage, wie unser – aus dem 19. Jahrhundert geerbtes – politisches System den Herausforderungen unserer Zeit angepasst werden kann, beschäftigt mich schon länger – gebloggt habe ich dazu u.a. hier [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
[11] Toby Ord, The Precipice, New York 2020, S. 13.BACK TO TEXT
[12] Ich empfehle dazu gerne und mit Überzeugung nochmals diese beiden Artikel hier und hier [abgerufen am 23. Mai 2020].BACK TO TEXT
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