wahlgedanken: fünf zukunftsfragen

In 44 Tagen wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt1. Seit Ende Juni liegen – endlich – die Wahlprogramme aller größeren Parteien vor2. Eigentlich hätte ich erwartet, dass spätestens seit diesem Zeitpunkt eine öffentliche Debatte über die Ziele und Inhalte dieser Programme in Gang kommt. Das aber war bisher (von einzelnen Ausnahmen abgesehen3) nicht der Fall.

Stattdessen dreht sich der Reigen der wechselseitigen Schlechtmacherei zwischen Personen und zwischen Parteien munter weiter, zuletzt in der vergangenen Woche mit der sozialmedialen Aufregung über einen Tweet eines CDU-Politikers, der die politischen Vorhaben der Grünen grob verzerrt darstellte4.

Diese unwürdigen Scharmützel frustrieren mich. Als engagierte Vieldenkerin kränkt mich der Mangel an gestalterischem und intellektuellem Anspruch der sandkastenunreifen Rangeleien5; als idealistische Bürgerin beleidigt mich das völlige Fehlen gesellschaftlicher Revelanz der personalisierten Kleinkriege teilweiser weit unterhalb der Gürtellinien aller Beteiligten; und als politischer Mensch bin ich ratlos, wie irgendjemand glauben kann, irgendjemanden anders mit derart inhaltsleeren, profanen und billigen Kabbeleien davon überzeugen zu können, einen wahlstimmenwürdigen Zukunftsplan für unser Land zu haben.

Um mich von der öffentlichen Zeterei abzulenken, habe ich in den letzten Wochen die Wahlprogramme der sechs derzeit im Bundestag vertretenen Parteien gelesen. Da finden sich – zum Glück – weniger Schlechtmacherei, eine große Anzahl – mal mehr mal weniger konkreter – Ideen und – natürlich – jede Menge polierte Sprache, dekoriert mit viel “Zukunft” und “Wohlstand” über alle Parteien hinweg. Vor allem aber finden sich in jedem der Programme grundlegende Annahmen über die Rahmenbedingungen unseres Zusammenlebens, die jeweils nicht hinterfragt werden – und genau hier möchte ich heute ansetzen. Denn: Wir leben – zwischen Klimawandel, Digitalisierung, noch längst nicht überwundener Pandemie und großen wirtschaftlichen Ungleichheiten – in einer Epoche, in der wir uns ausdrücklich darüber streiten – und dann auch darüber einig werden! – müssen, an welchen Überzeugungen sich unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten orientieren soll.

Im ungeordneten Gang durch die Wahlprogramme bin ich auf fünf große Zukunftsfragen gestoßen, die ich gerne im Wahlkampf – und darüber hinaus – konstruktiv diskutieren und diskutiert hören möchte.

1. Was ist Krise? Was ist Normalität?

Im Wahlprogramm der Grünen heißt es gleich auf der ersten Seite: “Wir können entscheiden, ob uns die Krisen über den Kopf wachsen oder wir über sie hinaus”. Die unausgesprochene Annahme hinter diesem Satz ist: Wir leben in einer Zeit der (globalen) Krisen6. Logisch schlüssig ergibt sich daraus als wichtigste Aufgabe der Politik die Krisenbewältigung. Das klingt nach dauerhaftem Ausnahmezustand – und übersieht damit, dass wir uns eigentlich die Frage stellen müssen, wie in Zukunft unsere Normalität aussieht (und was dann im Vergleich damit als Krise gilt).

Zum Beispiel: Wenn wir den Schutz unseres Planeten ernst nehmen, dann müssen wir tagein tagaus und in allen Bereichen nachhaltiger leben und wirtschaften. Das bedeutet: Unsere neue Normalität muss die Auswirkungen unserer Lebensweise auf unsere Umwelt (und die unserer Nachkommen) immer und von vornherein mitdenken. Das ist keine zeitlich begrenzte Krisenbewältigung, sondern ein dauerhafter Paradigmenwechsel. Wie genau wir diesen gestalten wollen und können, möchte ich gerne diskutieren: Welche Energiequellen wollen wir nutzen? Wie gehen wir mit unserem Land und seinen Lebewesen um? Wieviel Platz und wieviel Zeug (ge-) brauchen wir Menschen? Wie geben wir der Natur den Raum und die Stimme, die sie braucht, damit wir mit ihr (über-) leben können – und sie mit uns?

Genauso möchte ich diskutieren, welche Normalität wir im Zusammenleben mit Computern und Maschinen gestalten wollen, oder mit welcher Normalität wir uns im Umgang miteinander in unserem Land und in der Weltgemeinschaft unter anderen Ländern bewegen wollen7.

2. Worum kümmern wir uns gemeinsam? Was treibt jede:r für sich?

“Wir lassen niemanden zurück”, schreibt die Linke gleich mehrfach in der Einleitung zu ihrem Wahlprogramm. Dahinter steckt die Annahme, dass die Menschen in unserer Gesellschaft sich in unterschiedlichem Tempo bewegen und dass es vorrangige Aufgabe der Politik ist, sich für diejenigen einzusetzen, die langsamer oder am langsamsten unterwegs sind. Daraus ergibt sich logisch die Solidarität als vorrangige Haltung für uns alle – und tatsächlich führt dieses Wahlprogramm mit 90 Wortbildungen rund um “Solidarität” mit weitem Abstand vor den anderen8 – mit entsprechend konkreten Vorschlägen zur solidarischen Gestaltung von Arbeitsmarkt, Gesundheitssystem, Bildung u.a.m.

Ganz anders im Wahlprogramm der FDP, wo “Wettbewerb, Unternehmertum und Innovation” beschworen werden: Hier ist die Annahme offensichtlich, dass die Menschen in unserer Gesellschaft auf sich selbst gestellt am meisten erreichen können – angetrieben durch die “Schubkraft der Freiheit”. Bei der Betonung von “Wettbewerb” (41 Nennungen) spielt die FDP in derselben Liga wie die CDU/CSU (42 Nennungen), bei “Freiheit” (40 Nennungen) liegt sie in der Spitzengruppe zwischen der größten Oppositionspartei (63 Nennungen) und der CDU/CSU (38 Nennungen). Am auffälligsten aber ist in diesem Zusammenhang die Wortschöpfung vom “Entfesselungspakt für die deutsche Wirtschaft” – ein eigenartig altmodisch prometheisches Bild nicht ohne bedrohliche Beitöne.

Hinter der oberflächlichen Schwarz-Weiß-Malerei der beiden Entwürfe – hier: Gesellschaft als absolut egalitäre Solidargemeinschaft bzw. dort: Gesellschaft als Ansammlung entfesselter (Wirtschafts-) Individuen – steht eigentlich die tiefgreifende Frage danach, welche Aufgaben wir als Gesellschaft gemeinsam übernehmen (und damit als Steuerzahler:innen finanzieren) – und welche wir den einzelnen Bürger:innen überlassen. Darüber möchte ich gerne diskutieren, und zwar möglichst konkret: Bereich für Bereich, Thema für Thema, Steuergroschen für Steuergroschen und Steuermilliarde für Steuermillarde.

3. Wie wollen wir arbeiten? Wie wollen wir leben?

Im Parteiprogramm der SPD steht direkt im zweiten Absatz: “Gelingt es uns, die Arbeit und den Wohlstand von morgen zu sichern und für Vollbeschäftigung zu sorgen? Oder finden wir uns damit ab, dass Menschen ohne Arbeit bleiben?”. Vollbeschäftigung – im übrigen auch als Ziel genannt in den Progammen der CDU/CSU und der Grünen sowie (en passant) in einem Abschnitt über die Rolle der EZB im Programm der Linken – impliziert eine Gesellschaft, die Erwerbsarbeit wichtiger nimmt als Familien- oder Sorgearbeit und die abhängige Erwerbsarbeit höher schätzt als Gründergeist, Unternehmertum oder Selbständigen- und Freiberufle:innen-Karrieren. Ist das wirklich die Gewichtung, die wir uns für unser gemeinsames (Arbeits-) Leben wünschen? Auch darüber möchte ich gerne diskutieren.

Und die noch viel größere Frage dahinter ist: Wie und woran messen wir Wertschätzung, Wertstiftung und Wertgenerierung in unserer Gesellschaft? Welche Rolle spielt in Zukunft noch das Bruttoinslandsprodukt? Wie balancieren wir wirtschafltiche Ziele und wirtschaftliches Wachstum für unser Land mit globalen Nachhaltigkeitszielen (z.B. in Gestalt der Sustainable Development Goals)9? Wie übersetzen sich diese Ziele in den Alltag der Bürger:innen? Wie werden wir wohnen, uns kleiden, uns ernähren? Wie und wieviel reisen? Was und wieviel konsumieren?

4. Wie gehen wir mit unterschiedlichen Interessen, Haltungen oder Lebensentwürfen um?

“Wir spielen vermeintliche Gegensätze und unterschiedliche Gruppen nicht gegeneinander aus.
Wir verbinden sie”, heißt es im Wahlprogramm der CDU/CSU. Direkt vor diesem Satz allerdings steht der folgende Abschnitt: “Wir haben […] die richtigen Werte und Prinzipien: Vernunft statt Ideologie, Innovationen statt Verbote, Soziale Marktwirtschaft statt sozialistischer Umverteilung, Chancen statt Ängste, Respekt statt Bevormundung für Familien, christliches Menschenbild und gesellschaftliche Vielfalt statt vorgefertigter Lebensentwürfe für jeden Einzelnen”. Sind das keine (vermeintlichen) Gegensätze? Stehen diese Begriffe nicht für unterschiedliche Gruppen? Oder – falls doch – warum kann man diese dann doch gegeneinander ausspielen? Dahinter steht offenbar die unausgesprochene Überzeugung einer ehemaligen Volkspartei, dass sie es ist, die den Rahmen absteckt, innerhalb dessen gesellschaftliche Spannungen akzeptabel sind. Ungeklärt bleibt dabei die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Gegensätzen oder unterschiedlichen Gruppen umgehen, die diesen Rahmen für sich nicht akzeptieren.

Mit anderen Worten: Diskutieren möchte ich darüber, in welchem Bereichen, zu welchen Themen und bei welchen Prinzipien wir als Gesellschaft Unterschiede akzeptieren – oder sogar (im Sinne gelebter Diversität10) für produktiv halten und bewusst nutzen – und welche Unterschiede mit unserem kollektiven Selbstverständnis nicht vereinbar sind. Diese Diskussion muss viel ausführlicher und viel konkreter sein als ein diffuser Appell an “Vielfalt” – ein Begriff, der im übrigen nicht nur bei den Grünen (44 Nennungen) und bei der Linken (29 Nennungen), sondern auch bei der CDU/CSU (17 Nennungen) im Vergleich zu den anderen Parteien jeweils hoch im Kurs steht. Jenseits des Schlagworts: Vielfalt – egal, in welchem Bereich – trägt nur dann zur Stärkung einer Gesellschaft bei, wenn gleichzeitig Einigkeit darüber herrscht, wie mit der Vielfalt umzugehen ist.

Zum Beispiel und aus aktuellem Anlass: Ist der Genuss von Currwurst eine individuelle Entscheidung, um deren Realisierung sich jede:r einzelne Currywurstliebhaber:in selbst zu kümmern hat? Sind Menschen, die gerne und regelmäßig Currywurst essen, eine Gruppe, die in unserer Gesellschaft so groß und relevant ist, dass Kantinen, Sterne-Restaurants und Foodtrucks immer ein Currywurstgericht im Angebot haben müssen? Oder ist gar der Verzehr von Currywurst für eine glückliche Zukunft unserer Gesellschaft so bedeutsam, dass eine wöchentliche Currywurstverzehrpflicht eingeführt werden sollte? Und so weiter – mutatis mutandis…

5. Wie soll unser Staat funktionieren? Was macht uns als Bürger:innen aus?

Die Programme von CDU, SPD, Linken, Grünen und FDP beginnen jeweils mit blumig-wortreichen und staatstragend-einordnenden Vorreden. Im Gegensatz dazu steht am Anfang des Wahlprogramms der Partei mit der kürzesten Bundestagsgeschichte unter der Überschrift “Das Volk ist der Sourevän” ein direkter Angriff gegen “die Regierungspolitker”, der in eine konkrete Forderung mündet: “Deshalb halten wir die unmittelbare Demokratie für ein unverzichtbares Mittel, um dem autoritären und teilweise totalitären Gebaren der Regierungspolitiker Einhalt zu gebieten”. Unmittelbar darauf folgt die Forderung nach der Einführung von “Volksabstimmungen nach Schweizer Modell” als “nicht verhandelbarer Inhalt jeglicher Koalitionsvereinbarungen”. Dahinter steckt die (später im Text auch explizit formulierte) Überzeugung, dass Bundestag, Parteien und irgendwie überhaupt unser politisches System nicht (mehr) vertrauenswürdig seien.

Die Fragen, die ich gerne diskutieren möchte sind: Wie sieht ein modernen Staat für unsere Gesellschaft unter den Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts aus? Welche politischen Institutionen und Entscheidungsprozesse passen zu den globalen Herausfordungen unserer Zeit? Welche Rolle können digitale Werkzeuge und sozialen Medien spielen, um staatliches Handeln transparenter, funktionaler, effektiver und effzienter zu machen? Welche Verantwortungen ergeben sich daraus für uns als Bürger:innen? Wann und wie können (oder müssen) wir uns jenseits von Wahlentscheidungen nach Legislaturperioden, Steuerzahlungen und Verwaltungsakten aktiv ins politische Leben einbringen?

Zum Vergleich: 1835 fuhr die erste (Dampf-) Eisenbahn in Deutschland auf der sechs Kilometer langen Strecke zwischen Nürnberg und Fürth mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit bis 30km/h. Heute ist das Eisenbahnnetz in Deutschland über 38.000km lang, und ein ICE fährt im normalen Betrieb bis zu 300km/h. Außerdem gibt es in unserer Mobilitätslandschaft Autos, Busse, Lastwagen, Fahrräder, E-Scooter und allerlei andere Fahrzeuge – ganz zu schweigen von Schiffen, Flugzeugen oder Raketen. Diskutieren würde ich gerne, ob unsere politische Landschaft seit dem Paulskirchenparlament von 1848 ähnliche Fortschritte in Integration, Reichweite, Effektivität, Effizienz und Vielfältigkeit gemacht hat – oder wo, wie und was wir verändern wollen, damit die staatliche Verfassung unserer Gesellschaft mit ihren praktischen, technischen und wirtschaftlichen Ausprägungen Schritt hält.

* * *

In Summe: Statt inhaltsfreier Wahlkampfkandidat:innenenkarambolagen wünsche ich mir von allen Beteiligten Diskussionen miteinander und mit Bürger:innen über die großen Zukunftsfragen, die uns bewegen (sollten). Dabei kommt es nicht darauf an, wer mit den eigenen Positionen und Argumenten gewinnt oder wer verliert. Sondern es kommt darauf an, wem es gelingt, kontroverse Debatten konstrukiv zu führen und in Richtung einer besseren Zukunftsperspektive konsensfähig aufzulösen. Kandidat:innen, die zeigen, das sie das können, haben eine Chance auf meine Stimme – weil ich ihnen zutrauen würde, mit diesen Fähigkeiten auch unerwartete Herausforderungen im Interesse unseres Zusammenlebens als Gesellschaft zu meistern.

Ich bin gespannt, wer sich traut.


  1. Die offizielle Seite des Bundeswahlleiters ist hier zu finden; ganz unten auf der Seite ist auch der Countdown-Zähler [abgerufen am 13. August 2021]. In diesem Jahr teile ich gelegentlich einige meiner Gedanken rund um den Wahlkampf und die Wahl hier auf dem Blog – nicht um den einen oder die andere zu einer bestimmten Wahlentscheidung zu bewegen, sondern um einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass möglichst viele von uns möglichst reflektierte Wahlentscheidungen treffen. Mein erster Artikel zum Thema von Ende Mai ist hier nachzulesen [abgerufen am 9. August 2021].
  2. Links zu allen Wahlprogrammen sind auf dieser Seite zusammengestellt. Alle im folgenden zitierten Passagen stammen aus den hier verlinkten Versionen der Wahlprogramme [abgerufen am 10. August 2021].
  3. Eine positive Ausnahme ist beispielsweise der lange Artikel zum Vergleich der “für die Wirtschaft wichtigsten Vorhaben” in der Print-Ausgabe des Handelsblatts vom 25./26./27. Juni 2021 (S. 8 ff.) mit dem schönen Titel: “Wer hat den besten Plan für Deutschland?”.
  4. Der Thread (von Friedrich Merz), mit dem die Aufregung begann, findet sich hier [abgerufen am 10. August 2021].
  5. In puncto fehlender Gestaltungswille spricht mir dabei dieser Beitrag von Verena Pausder auf LinkedIn aus der Seele [abgerufen am 10. August 2021].
  6. Mit 113 Nennungen des Wortes “Krise” (allein oder in zusammengesetzetn Formen) führt das Wahlprogramm der Grünen im übrigen in dieser Kategorie, gefolgt von den Linken (über 70 Nennungen). Alle anderen Programme liegen bei 20-40 Nennungen des Wortes “Krise”.
  7. Vor mehr als einem Jahr habe ich zu mehreren dieser Fragen einen ausführlicheren Artikel hier geschrieben [abgerufen am 10. August 2021].
  8. Selbst bei der SPD sind es nur 28, und bei der FDP nur sechs im Zusammenhang mit “Solidaritätszuschlag” sowie eine (versehentliche?) Formulierung zu einem solidarischen Gesundheitssystem.
  9. Fairerweise formuliert zu dieser Frage die SPD die deutlichste Aussage: “Den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft meistern wir, wenn wir wirtschaftlichen Erfolg zukünftig nicht nur am Bruttoinlandsprodukt messen, sondern am Wohlergehen der gesamten Gesellschaft und der Natur. Wir richten unsere Politik an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDG) aus und werden dazu die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterentwickeln”.
  10. Vor einigen Jahren habe ich zu den Herausforderungen echter Diversität hier einen Beitrag geschrieben [abgerufen am 13. August 2021].

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