corona: die komfortzonenfalle

Am gestrigen Mittwoch haben die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsident*innen der Bundesländer wieder einmal darüber beraten, wie mit der “Lage” in Deutschland in Zeiten der Pandemie umzugehen sei. “Wir brauchen noch einmal eine Kraftanstrengung”, wird die Bundeskanzlerin zitiert1. In der konkreten Ausgestaltung fühlt sich die “Kraftanstregung” dann allerdings eher matt an: Statt wie bisher zehn dürfen sich im öffentlichen Raum zukünftig nur noch fünf Personen aus zwei Haushalten treffen – dafür zählen Kinder aber nicht mit. Die Maskenpflicht gilt nicht nur in Geschäften, sondern auch davor, außerdem auch in Unternehmen – es sei denn, man sitzt am eigenen Arbeitsplatz. Gleichzeitig bleiben Schulen und Kitas grundsätzlich geöffnet – aber ab 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner soll jeweils regional über alternative Modelle nachgedacht werden. Und schließlich: Über Weihnachten gelten Ausnahmen von den Regeln, denn dann dürfen sich bis zu zehn Erwachsene (plus Kinder) um jeweils einen Weihnachtsbaum versammeln.

Dieser Beschluss ist – bei allem Respekt für die Schwierigkeiten politischer Entscheidungsfindung im föderalen Kontext – keine Kraftanstrengung. Eine Senkung der Infektionszahlen auf ein Drittel des heutigen Niveaus wird hierdurch nicht erreicht werden. Der Beschluss ist vielmehr nichts als ein zufälliges Bündel marginaler Anpassungen an dem bisher nur gebremst wirksamen Maßnahmenpaket, das bereits seit Anfang November in Deutschland gilt. Dass dieses Maßnahmenpaket nicht ausreichen würde, um die Infektionszahlen massiv nach unten zu treiben, war vor vier Wochen bereits absehbar2.

Klar ist bereits seit dem Frühjahr: Eine wirklich drastische Senkung der Infektionszahlen ließe sich auch bei uns nur mit einem mehrwöchigen strikten Lockdown mit konsequenten Ausgangssperren erreichen, so wie er in anderen Ländern umgesetzt wurde. Es ehrt die politischen Mandatsträger*innen, dass sie diesen Weg nicht gehen und damit zahlreiche Grundrechte aus Prinzip höher bewerten als einen Gesundheits- und Infektionsschutz um jeden gesellschaftlichen Preis.

Im Kern steckt hinter der offensichtlichen Mattigkeit der Maßnahmen jedoch keine politische, sondern ein psychologische Haltung, in der die politischen Mandatsträger*innen sich interessanterweise sehr einig mit uns Bürger*innen zu sein scheinen: Die Corona-Komfortzonenfalle.

Konkret: Seit März haben wir alle uns nach und nach an die Rahmenbedingungen der Pandemie gewöhnt und notgedrungen unser Verhalten im Alltag angepasst – und zwar jede*r nach seinen persönlichen Lebensumständen, seinem persönlichen Risikoempfinden und seinen persönlichen Bedürfnissen. Wer Angst vor einer Ansteckung hat, weil er seine eigene Gesundheit oder die enger Familienangehöriger schützen will und muss, hat bereits seit dem Frühjahr auf alle nicht notwendigen Kontakte verzichtet. Ich kenne viele Menschen, die seit mittlerweile mehr als acht Monaten keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ausschließlich von zuhause arbeiten, nicht ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater gehen und bei den wenigen absolut unvermeidbaren Begegnungen mit Menschen außerhalb der eigenen Familie konsequent FFP2-Masken tragen. Ein Beispiel für solche Menschen ist mein ehemaliger Schulkamerad Z., dessen Partnerin sich zuhause von einer Transplantion erholt, weshalb die ganze Familie mit ihren drei Kindern seit Wochen sorgsamst darauf achtet, alles zu vermeiden, was eine Infektion ins Haus tragen könnte. Sie treffen sich nicht mit maximal zehn Personen, auch nicht mit maximal fünf – sondern mit niemandem außerhalb der Familie.

Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es jene Menschen, die schon im März das Gefühl hatten, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie übertrieben seien. Diese Menschen haben sich bereits im Frühjahr draußen und zuhause mit anderen Gleichgesinnten getroffen, sind im Sommer in den Urlaub gefahren, haben Kneipen und Restaurants besucht und sind zu Fußballspielen, Konzerten oder Kleinkünstlerauftritten gegangen. Einige von ihnen haben möglicherweise sogar an einer der zahlreichen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen. Viele von ihnen tragen Maske, wo es Pflicht ist, aber sie schränken sich maximal so weit ein, wie es die aktuell geltende Gesetzeslage unbedingt erfordert. Ein Beispiel für solche Menschen ist mein ehemaliger Arbeitskollege D., der seinerzeit im ersten Flieger saß, der wieder nach Mallorca abhob, und der mir bei einem Spaziergang am Fleet im Sommer vorrechnete, dass der prozentuale Anteil Infizierter an der Gesamtbevölkerung zu keinem Zeitpunkt eine Schließung von Jazzclubs gerechtfertig habe.

Zwischen D. und Z. gibt es viele, viele Grauschattierungen persönlicher Geschichten, in denen Menschen sich damit arrangiert haben, ihre familiären, beruflichen, sozialen und freizeitlichen Aktivitäten so zu gestalten, wie es ihrer ganz persönlichen Corona-Komfortzone entspricht. Ich selbst beispielsweise habe mich im Privaten seit März nur ein einziges Mal mit mehr als drei erwachsenen Menschen aus mehr aus zwei Haushalten getroffen – und zwar im September am Elbstrand mit den Familien der ehemaligen Grundschulklasse meines Sohns, jede Familie auf einer eigenen Decke picknickend. Alle anderen Begegnungen beschränkten sich auf maximal drei Erwachsene (und maximal vier Kinder) aus maximal zwei Haushalten. Ich bin im Juli und im Oktober zwei Mal im Urlaub gewesen3 – allerdings jeweils in einem Ferienhaus an der Mecklenburgischen Ostseeküste, ohne Besuch von Veranstaltungen (die ohnehin überwiegend ausfielen), Kneipen oder Innenräumen in Restaurants. Ich war im September und Oktober vier Mal im Ballett bzw. in der Oper4 – und habe dabei meine Maske während der gesamten Vorstellung jeweils nicht abgenommen. Gleichzeitig bin ich seit Mai beruflich wieder mit Bahn und Flugzeug unterwegs gewesen5, habe in Hotels übernachtet und bei Unternehmen Interviews geführt oder Workshops geleitet – wobei nach meiner Beobachtung jedes einzelne Unternehmen für sich schon spätestens seit April Rahmenbedingungen geschaffen hatte, die pandemiekonformes Arbeiten möglich machen, z.B. durch großzügiste Bestuhlungen in Konferenzräumen, durch strenge Maskenregelungen auf Fluren und in Fahrstühlen oder durch Durchführung von Corona-Schnelltests vor Meetings mit mehr als sechs Teilnehmer*innen.

Was sich an diesen Beispielen zeigt: Ob Z., ob D., ob ich selbst oder ob irgendeine*r von Euch allen anderen, die das hier lesen – wir alle haben uns inzwischen in einer Corona-Komfortzone eingeschwungen, die sich für uns individuell jeweils passend anfühlt. Dabei hat natürlich auch weiterhin jede*r ganz eigene, spezifische Schmerzpunkte: Z. würde sich über die konsequente Einführung von Hybridmodellen in der Schule und über ein Schweigegebot in öffentlichen Verkehrsmitteln freuen; D. ist für die sofortige Öffnung der Gastronomie, mindestens unter den Vorgaben der Personen- und Haushaltsgrenzen, die auch sonst im öffentlichen Raum gelten; ich wäre für eine sofortige Wiederöffnung von Theatern, Opernhäusern, Konzertsälen und Museen unter Einhaltung der bis Oktober geltenden Hygieneregeln. Gleichzeitig wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit keine*r von uns aufgrund der jetzt angepassten Regeln sein alltägliches Verhalten noch einmal grundlegend ändern. Das bedeutet auch: An der Entwicklung der Infektionszahlen wird sich weder vor noch über Weihnachten dramatisch viel ändern, ehe nicht äußere Umstände (Frühling!) oder medizinischer Fortschritt (Impfung!) zu einer massiven Senkung beitragen können.

Ich vermute: Die politischen Mandatsträger*innen haben längst – mindestens: unbewusst – erfasst, dass für die allermeisten Bürger*innen die Corona-Komfortzonenfalle schon seit Monaten zugeschnappt ist. Angesichts dieser psychologischen Gesamtlage ist es nur konsequent, dass auch die verabschiedeten Maßnahmen halbherzig ausfallen, denn eine große Verhaltensänderung einzelner ist so oder so nicht (mehr) zu erwarten. Wer bisher seine Kontakte strikt beschränkt hat, wird das auch weiterhin so handhaben. Wer bisher wusste, wo Kellerparties stattfinden, wird seinen Weg auch weiterhin zur richtigen Hinterhoftreppe finden. Wer jetzt keine Maske hat, kauft sich keine mehr. Wer jetzt keinen Abstand hält, wird weiter auf Tuchfühlung bleiben. Wer bisher seine aushäusigen Aktiviäten auf lange, einsame Spaziergänge beschränkt hat, wird auch weiter unruhig in den Alleen hin und her wandern, selbst wenn längst alle Blätter von den städtischen Laubbläsern zusammengepustet worden sind.

Angesichts dieser kollektiven Gemütslage, liegt das, was Politik jetzt tun könnte und müsste, in einem ganz anderen Feld als in dem der filigranen Anpassung bereits geltender Kontaktbeschränkungen. Wenn wir als Bürger*innen in unserer jeweiligen Corona-Komfortzonenfalle festsitzen und wenn ein strikter Lockdown weiterhin außerhalb des Lösungsraums liegt, dann bleibt nur der Weg, den Rest des Systems so zu stärken, dass es gegenüber einem gleichbleibendem Niveau von Infektionen weitestgehend stabil ist. Konkret stellen sich damit vier Fragen:

  • Welche weitere Unterstützung benötigen Krankenhäuser und Kliniken, um nicht nur Corona-Patient*innen, sondern auch alle anderen Patient*innen angemessen behandeln zu können, selbst wenn die Infektionszahlen auf dem aktuellen Niveau verbleiben?
  • Wie kann die Arbeit der Gesundheitsämter weiter gestärkt werden, so dass die Nachverfolgung von Kontakten schnell, umfassend und bürokratiearm gelingen kann, egal wie hoch die Infektionszahlen sind?
  • Was braucht es, um (Schnell-) Tests überall da zur Verfügung zu stellen, wo sie helfen können, unklare Infektionslagen schnell zu klären oder (Super-) Spreading-Events zu vermeiden, also z.B. in Schulen und Kitas, in der Touristik oder bei Veranstaltungen?
  • Welche (zusätzlichen) digitalen Check-In-Werkzeuge können zum Einsatz kommen, um die Nachverfolgung von Kontakten z.B. in Gastronomie und Hotellerie, in Kultureinrichtungen, im öffentlichen Nah- und Fernverkehr oder im Sport möglichst weitgehend zu automatisieren? Kann u.U. sogar die Nutzung der Corona-Warn-App in bestimmten Situationen verpflichtend gemacht werden?

Ich wünsche mir für die Advents- und Weihnachtszeit, dass die politischen Mandatsträger*innen zügig und wirksam Antworten auf diese Fragen erarbeiten – statt mühsam einen Regelungsrahmen dafür zu schaffen, dass ich am Heiligen Abend eine Party organisieren könnte, die größer ausfallen würde als jede einzelne private Begegnung in geschlossenen Räumen, die ich seit März gehabt habe. Ich verzichte gerne auf bis zu neun Erwachsene und unendlich viele Kinder unter 14 Jahren unter meinem Weihnachtsbaum – wenn dafür die politischen Mandatsträger*innen ihrerseits eine eine echte Kraftanstrengung unternehmen, um jene Schwachstellen des Systems pandemiefest zu machen, die uns allen eigentlich seit März bekannt sind. Denn: Letzteres kann ich als einzelen Bürgerin aus eigener Kraft leider nicht bewältigen – ganz egal, wie sehr ich mich anstrenge.


  1. Nachzulesen auf der Seite der Bundesregierung hier, wo auch der Text des Beschlusses demnächst auch im Wortlaut verlinkt sein sollte [abgerufen am 26. November 2020].
  2. Vgl. dazu meinen Blogbeitrag vom 31. Oktober 2020 hier [abgerufen am 26. November 2020].
  3. Eine weitere private Reise im September und einen Familienbesuch im Oktober habe ich dagegen abgesagt, weil die Lage jeweils zu unübersichtlich erschien.
  4. An dieser Stelle gebe ich zu Protokoll, dass die Schließung von Theatern, Opern- und Konzerthäusern für mich persönlich eine der schmerzhaftesten Dimensionen des “Lockdown” ist. Mir fehlt das lebendige Eintauchen in andere Gedanken-, Wort- und Klangwelten mehr als alles andere, gerade in einer Zeit, in der angenehme Ablenkungen und anhaltende Aufheiterungen spärlich gesät sind.
  5. Natürlich habe ich auch die Corona-Warn-App installiert, um zumindest im Ansatz zu merken, ob eine zufällige Begegnung unterwegs ein Infektionsrisiko mit sich bringt.

Respond to corona: die komfortzonenfalle

Leave a Reply