corona: der preis der normalität

Heute ist der 29. April 2020. Dieser Tage sind nach den Zählungen der Johns Hopkins Universität weltweit knapp über drei Millionen Menschen nachgewiesenermaßen mit dem Coronavirus infiziert, und deutlich mehr als 200.000 infizierte Menschen sind inzwischen gestorben[1]. In einigen Ländern steigen die Infektionszahlen weiter rapide an; in anderen Ländern flacht die Kurve der Neuinfektionen anscheinend aktuell ab[2]. Seit einigen Wochen gibt es deshalb vielerorts erste vorsichtige Schritte zur Lockerung der Beschränkungen, die zur Eindämmung der Verbreitung des Virus eingeführt worden waren. Dabei ist manchmal die Rede von einer “Rückkehr zur Normalität”, oft aber auch davon, dass wir uns auf eine “neue Normalität” einstellen müssen, “weil nichts mehr so funktioniert wie damals”[3].

Egal, ob “alte” oder “neue” Normalität: Der Gedanke der Normalität an sich impliziert, dass wir kollektiv zu einer gewissen Verlässlichkeit von Rahmenbedingungen (zurück-) finden, innerhalb derer wir dann individuell unser Leben (wieder) planen und gestalten können. Wir alle wollen gerne wieder den Jobs nachgehen, für die wir uns eigentlich entschieden haben: Schülerinnen und Schüler wollen wieder zur Schule gehen, Unternehmerinnen wollen wieder Geschäfte machen, Väter wollen wieder mit ihren Töchtern und Söhnen auf Spielplätze gehen, Chirurginnen wollen wieder operieren, Erzieher wollen wieder mit Kindern arbeiten, Künstlerinnen wollen wieder auftreten, Abgeordnete wollen wieder Gesetze verabschieden – und vermutlich wollen selbst einige Virologinnen gerne wieder einfach nur im Labor an ihren Viren forschen.

Allerdings: Unter uns lebt seit einigen Monaten auch eine hoch ansteckende Infektionskrankheit, die ebenfalls ihrem – für uns als Menschen leider schädlichen – Job nachgeht und gegen die es aktuell (und höchstwahrscheinlich auf absehbare Zeit) weder wirksame Medikamente noch Impfstoffe gibt. Wir wissen aus anderen Ländern, dass diese Infektion die Wucht hat, selbst prinzipiell gut aufgestellte Gesundheitssysteme zu überfordern, und wir wissen inzwischen auch, dass in mehreren Ländern im Zusammenhang mit der Infektion eine deutliche Übersterblichkeit beobachtet werden kann[4]. Wollen wir also weiterhin dem (inhärent moralischen[5]) Anspruch Genüge tun, “für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung [zu] gewährleisten”[6], so muss unsere zukünftige Normalität das Gesundheitssystem entsprechend stärken und gleichzeitig weiterhin einen übermäßigen Anstieg der Infektionszahlen vermeiden.

Unsere zukünftige Normalität hat also einen Preis – nämlich den, den wir für die Stärkung des Gesundheitssystems einerseits und für die Vermeidung ansteigender Neuinfektionszahlen andererseits zahlen müssen[7]. Wie teuer insbesondere letzteres sein kann, haben uns die letzten Wochen eindringlich gezeigt: Die Verzweiflung von Menschen, die zu den potenziellen Risikogruppen gehören und deshalb nicht mehr aus dem Haus gehen; der Stress überlasteter Eltern und Kinder im Dauereinsatz zwischen Home-Office und Home-Schooling; die Ratlosigkeit zur Untätigkeit (und damit zum Verdienstausfall) verdammter Kultur- und Sportbetriebe; der Untergang kriselnder Unternehmen von der Vereinsgaststätte an der nächsten Ecke[8] bis zum internationalen Luftfahrtkonzern; die Orientierungslostigkeit trudelnder Aktienmärkte – und der Wirtschaftsprognostiker, die sich in Zukunftspessimismus überbieten[9].

Was bei dieser Aufzählung auffällt: Ein Rückgang des Bruttosozialprodukts, eine andauernde Flaute des DAX, die drohende Insolvenz eines Großunternehmens und die unabwendbare Pleite einer Eckkneipe sind monetär quantifizierbar. In all diesen Fällen  können wir in Euro und Cent ausrechnen, was der Preis einer veränderten Normalität ist – und Ökonomen ebenso wie große und kleine Geschäftsleute beschäftigen sich (zu Recht) seit Wochen mit dieser Quantifizierung. Ganz anders ist die Lage bei Kultur, Sport (mit Ausnahme des Profisports), Religion und Freizeit, bei Bildung und (Kinder-) Betreuung, bei den Einschränkungen für Angehörige der Risikogruppen – und nicht zuletzt bei den sehr individuellen Belastungen, denen jede und jeder einzelne von uns dieser Tage ausgesetzt ist.

Was ist der Preis der verlorenen Leichtigkeit?

Was ist der Preis der verlorenen Leichtigkeit eines ausgefallenen Ballettabends[10]? Was ist der Preis der verhallten Erhabenheit eines abgesagten Beethoven-Konzerts? Was ist der Preis der verpassten Provokation einer experimentellen Theatervorstellung oder eines innovativen Filmfests? Was ist der Preis aller Trainings, Spiele oder Turniere im Nachwuchs- und Amateurfußball, -handball, -basketball, -hockey, -tennis, -badminton, -judo oder -karate, die in diesen Wochen nicht stattfinden? Was ist der Preis gecancelter Marathons, Radrennen, Schwimmstunden, Yogasessions oder Fitnessstudiobesuche? Was ist der Preis von Gottesdiensten, Gesängen oder Gebeten, die nicht in Kirchen, Synagogen oder Moscheen stattfinden können? Was ist der Preis ausfallender Museumsbesuche, Ausstellungseröffnungen, Zoospaziergänge, Chorfreizeiten, Rockfestivals oder Volksfeste?

Was ist der Preis, den Kinder, Eltern und Lehrkräfte dafür zahlen, dass Schülerinnen und Schüler nicht in der Schule unterrichtet werden, sondern monatelang – auf unterschiedlichste Art und Weise – “Schule zuhause” praktizieren? Fällt dieser Preis höher oder niedriger aus, wenn einzelne Klassenstufen stunden-, tage- oder wochenweise doch wieder in der Schule unterrichtet werden? Was ist der Preis dafür, dass die “verlässliche Betreuung” in Kindertagesstätten und die Ganztagsbetreuung in den Schulen nicht bzw. nur für einen Bruchteil der Kinder stattfindet? Was ist der Preis dafür, dass Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher Stundenpläne und Curricula innerhalb kürzester Zeit erst auf Fernunterricht und dann auf Präsenzunterricht unter strengsten Hygienevorschriften umstellen müssen?

Was ist der Preis dafür, dass Millionen von älteren Menschen und weitere Millionen von Menschen mit sogenannten “Vorerkrankungen” nicht wissen, wann und unter welchen Umständen sie am sozialen, gesellschaftlichen oder erwerbstätigen Leben wieder teilnehmen können? Was ist der Preis von Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit, Einsamkeit oder Depression? Was ist der Preis eines isolierten Lebens in geschlossenen Räumen, hinter Plexiglasscheiben oder vor Bildschirmen?

Die fehlenden Antworten auf diese Fragen zeigen: In der aktuellen Diskussion schnurrt unser Menschsein zusammen aufs nackte Leben einerseits , das wir durch die Eindämmung der Pandemie zu schützen suchen – und auf unsere monetär quantifizierbaren (Erwerbsarbeits-) Tätigkeiten andererseits, weil diese sich relativ leicht in Rettungsschirme und Hilfsfonds übersetzen lassen[11]. Wir verkümmern zu (leider) virenanfälligen Organismen, deren Daseinszweck jenseits ihres bloßen Lebens sich in ihrem Bruttosozialproduktsbeitrag misst. Wer gestern noch für die solidarische Vernunft des Zuhausebleibens gelobt wurde, muss morgen möglicherweise damit rechnen, seinen Job zu verlieren, weil sein Arbeitgeber die Geduld mit der Rücksicht auf Risikogruppen oder die fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder verliert. Und wer den Sinn seines Lebens noch nie in der monetären Profitmaximierung gesehen hat, muss befürchten, in allen Auffang-, Entschädigungs- und Lockerungsdiskussionen von denen überholt zu werden, die ihre Interessen in centgenaue Geldbeträge übersetzen können.

Das Gewicht unserer Herzen

Das darf nicht passieren. Sorge und Fürsorge für sich, für andere und für die Gemeinschaft sind gerade jetzt unendlich wertvoll und wichtig (und Sorgearbeit muss zukünftig – das zeigt sich in dieser Zeit auch – definitiv anders oder besser bezahlt werden). Geistige und körperliche Gelenkigkeit, Schönheit und Erhabenheit, Neugier, Vorstellungs- und Schaffenskraft, Tragödie und Komödie und das freie Spiel von Inspiration, Intuition und intellektueller Entdeckerfreude sind seit Menschengedenken die Mittel zur nachhaltigen Bewältigung und Verarbeitung individueller und kollektiver Konflikte und Krisen. Wir dürfen uns unsere zukünftige Normalität nicht auf Kosten unseres Mitgefühls und unserer mitmenschlichen Verantwortung erkaufen – und auch nicht um den Preis des Erlöschens der kollektiven Sinnstiftung durch geteilte Geschichten und gemeinsame Erlebnisse.

Egal, welche (bezahlten) Jobs wir haben: Wir alle sind irgendwie auch Kinder oder Eltern, Kranke oder Künstler, Filmfans oder Fitnesstudiobesucher – und wir können es uns nicht leisten, für unsere zukünftige Normalität einen Preis zu zahlen, der uns in diesen Rollen mit Hypotheken belastet, die wir in diesem Leben in keiner Münze zurückzahlen können. Wir alle haben Herzblut in unseren Familien, in unseren Freundschaften, in unseren Berufen und Berufungen, in unseren Leidenschaften und Vorlieben – und dieses Herzblut müssen wir jetzt in die Waagschale gießen, wenn die Rahmenbedingungen für unser aller zukünftige Normalität abgesteckt werden.

Neben den Empfehlungen der Wissenschaft zum Umgang mit der Pandemie und neben den Forderungen der Wirtschaft nach Unterstützungsmechanismen und Lockerungsregelungen müssen wir jetzt auch als fühlende und fantasiebegabte Menschen unsere Stimmen erheben – und als freie und vernunftbegabte Bürgerinnen und Bürger überall da mitreden, wo die zukünftige Normalität gerade Formen annimmt.

Lasst uns als ältere Menschen oder Menschen mit relevanten Vorerkrankungen gemeinsam mit unseren Angehörigen und Ärzten besprechen, wie wir uns selbst am besten schützen können und was das für unser Leben bedeutet – ohne dass uns jemand Vorschriften dazu machen muss, wann und wo wir zum Einkaufen oder zum Sport gehen dürfen.

Lasst uns als Kinder, Eltern, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher gemeinsam miteinander – und mit Beratung von Gesundheitsexperten – darüber beraten, wie Bildung und Betreuung unter den Rahmenbedingungen der Eindämmung der Corona-Pandemie gestaltet werden kann – ohne dass uns jemand Vorschriften dazu machen muss, in welchem Abstand die Tische in den Klassenzimmern stehen und wieviele Kinder gleichzeitig die Toilette benutzen dürfen.

Lasst uns als Künstler*innen, Sportler*innen, Gläubige und Freizeitmenschen jeweils miteinander, natürlich mit Beratung von Gesundheitsexperten, und gemeinsam mit unseren Fans, Anhängern und Freunden kreative Lösungen dafür finden, wie Proben, Vorstellungen, Konzerte, Turniere, Gottesdienste und allerlei andere Aktivitäten ohne ein erhöhtes Risiko beschleunigter Infektionsverbreitung stattfinden können – ohne dass uns jemand Vorschriften dazu machen muss, wieviele Menschen gemeinsam eine Umkleidekabine benutzen dürfen.

Jede einzelne von uns und jeder einzelne von uns ist mehr als ein virenanfälliger Bruttosozialproduktproduktionskörper. Wir alle sind auch Träumerinnen und Träumer, Grüblerinnen und Grübler, Tänzerinnen und Tänzer, Erfinderinnen und Erfinder – und vor allem Gestalterinnen und Gestalter unseres Lebens und unserer Zukunft. Wir alle haben in den letzten Wochen schweren Herzens auf vieles verzichtet, was uns wichtig und lieb ist – und wir alle haben die Fähigkeit zur Disziplin und zum Veranwortungsbewusstsein, uns auch weiterhin an neue Normen zu halten, die unserer Gemeinschaft nützen. Jetzt brauchen wir die Stimme unserer Herzen, um dafür Sorge zu tragen, dass unsere zukünftige Normalität nicht nur unsere Körper und unsere Portemonnaies schützt, sondern unseren Gedanken, Gefühlen, Geschichten und Bewegungen auch in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren den Freiraum gibt, den wir alle brauchen, um menschlich zu bleiben. Der Preis der Normalität darf nicht sein, dass wir als Menschen aufgeben, was uns als Menschen schon ausgemacht hat, als Schulmedizin und Geldwirtschaft noch nicht entdeckt waren.

#stimmederherzen
#preisdernormalitaet


[1] Vgl. die täglich aktualisierten Angaben auf dieser Seite, die sich gegenüber meinem letzten Eintrag am 14. April 2020 jeweils um grob die Hälfte angestiegen sind [abgerufen am 28. April 2020].BACK TO TEXT

[2] Auch hierzu stellt die Johns Hopkins Universität Grafiken zur Verfügung, z.B. auf dieser Seite [abgerufen am 28. April 2020].BACK TO TEXT

[3] In unnachahmlich eindringlicher Kürze so formuliert von Kiki in ihrem Blog-Eintrag “Jetzt” von 27. April 2020 hier [abgerufen am 28. April 2020].BACK TO TEXT

[4] Vgl. diesen – regelmäßig aktualisierten – Überlick in der New York Times [abgerufen am 29. April 2020]. Für alle Anhänger der “Aber es sterben doch mindestens so viele Menschen an […]”-These: Natürlich wird rein statsistisch diese Übersterblichkeit irgendwann in den nächsten Monaten (oder Jahren) durch eine entsprechende Untersterblichkeit ausgeglichen werden – wer tot ist, kann ja nicht noch einmal sterben.BACK TO TEXT

[5] Vgl. dazu meinen Blog-Eintrag vom 2. April 2020 [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

[6] So treffend formuliert von Wolfgang Schäuble in einem Interview im Tagesspiegel vom 26. April 2020 [abgerufen am 29. April 2020]. Wichtig sind dabei im Kontext auch Schäubles nächste Sätze: “Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher”. BACK TO TEXT

[7] Als wichtiger Baustein der “Adaptiven Strategien zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie” auch empfohlen in dem gestern erschienenen gleichnamigen gemeinsamen Papier von Wissenschaftlern der Fraunhofer Gesellschaft, der Helmholtz Gesellschaft, der Leibniz Gemeinschaft und der Max Planck Gesellschaft [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

[8] Vgl. hierzu z.B. die anekdotischen, aber nichtsdestotrotz verallgemeinerbaren Beobachtungen von Maximilian Buddenbohm in diesem Blog-Eintrag von gestern [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

[9] Vgl. hierzu z.B. diesen – zugegeben: nicht mehr ganz aktuellen – Überblick im Handelsblatt vom 30. März 2020 [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

[10] Natürlich zitiere ich dieses Beispiel aus persönlicher Vorliebe und Leidenschaft – und auch, weil mir gefällt, was der Hamburger Choreograph John Neumeier vor einigen Tagen auf der Webseite des Hamburg Ballett schrieb: “Die Einschränkungen durch die weltweite Pandemie reichen jedoch weit tiefer: Sie bedroht nicht nur unser aller Gesundheit, sondern auch wichtige Errungenschaften unserer Gesellschaft. Ich sehe es als Aufgabe der Politik, die sinn- und gemeinschaftsstiftende Funktion von Kultur gerade in Krisenzeiten im Auge zu behalten und den einzelnen Akteuren möglichst große Freiräume zur Entfaltung zu bieten” [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

[11] Es gibt fairerweise eine weitere Diskussionlinie, die sich rund um die Frage rankt, ob und inwiefern durch die aktuellen Beschränkungen Grundrechte gekappt werden – und wie lange und unter welchen Umständen dies akzeptabel ist. Abgesehen davon, dass ich die Diskussion im Grundsatz für sehr wichtig halte: Sie wird meiner persönlichen Beobachtung nach kuriosierweise auffällig häufig von jenen angestoßen, die vor allem wirtschaftlichen Schaden durch die Beschränkungen befürchten – während die genuin juristischen Beiträge zu der Debatte interessanterweise nicht sehr zahlreich zu sein scheinen. Eine Ausnahme und eine abgewogene Betrachtung zum Thema ist dieser Artikel von Hanno Kube von Anfang April [abgerufen am 29. April 2020].BACK TO TEXT

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