tl;dr*

Die Pokémon sind als erste wach. Ein Bisasam sitzt auf meinem Kopfkissen. Ein Tragosso streckt seinen Knochen unter der Bettdecke hervor. Ein Ledyba flattert an der Fensterscheibe. Mein Sohn kommt in mein Schlafzimmer, stempelt auf unserer Bonuskarte die Tagesaufgabe ab und komplettiert damit eine Wochenserie. Zur Belohnung erscheint ein Latias. Wir werden  bis nach dem Frühstück brauchen, um ihn zu fangen: Drei Anläufe, insgesamt einundzwanzig Bälle und sieben Beeren.

Ich gehe zur Toilette. Auf dem Weg fällt mein Blick auf die blaue Pinnwand, auf der meine Freunde und Bekannten tagein und tagaus Fotos und Notizen zu ihren Erlebnissen und Erkenntnissen anheften. Jemand ist in Grönland, jemand in Paris, jemand in Taiwan. Jemand hat gut gegessen, jemand hat Geburtstag, jemand war im Museum. Dazwischen hängen Werbeflyer – heute früh für bestickte Schuhe, für fair gehandelte Schokolade und für Tagebücher, durch deren gemeinsame Bearbeitung Paare ihre Zuneigung füreinander wiederentdecken sollen. In einer Ecke der Pinnwand haben Mitglieder meiner Hobby-Brotbackgruppe Aufnahmen ihrer jüngsten Backwerke aufgehängt. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Zeitungsausschnitt mit einer Rezension zu einem Buch über das Ende des Neo-Liberalismus, das interessant klingt. Als ich von der Toilette zurückkomme, ist der Zeitungsausschnitt verschwunden. Stattdessen hängt da ein Bild von neugeborenen Meerschweinchenbabies.

Mein Sohn möchte sein neues Pikachu-Paillettenshirt in die Schule anziehen. Er erzählt, dass es im Unterricht verboten ist, die Pailletten an Paillettenshirts rauf- und runterzureiben. Wenn man die Pailletten nach oben schiebt, kneift Pikachu ein Auge zu. Wir haben noch Zeit, bis er los muss. Er repariert eine Wand in seinem unterirdischen Schatzbunker, webt mir zwei rot-orangefarbene Banner für das Schlafzimmer in meinem Häuschen am Fluss und spawnt eine Pilzkuh, die wir “Molli” nennen. Die Pilzkühe haben – wie die Eisbären auch – ein eigenes Gehege. Neben meinem Haus grast ein Esel, den wir “Ih-Ah” getauft haben. Mein Sohn füttert Ih-Ah mit Äpfeln.

Während mein Sohn noch mit Eselfüttern beschäftigt ist, gucke ich vor die Tür, wo zehn Leute in einer ordentlichen Schlange in der Reihenfolge ihrer Ankunft auf mich warten. Vier davon schicke ich schnell weg: Zwei sind Hausierer, von denen einer Kinderkleidung im Sonderangebot verkauft. Der andere kommt regelmäßig vorbei, um mir Fleisch anzubieten, seit ich vor einigen Jahren einmal meinem Schwager einen Gutschein für einen Gourmet-Fleischlieferservice geschenkt habe. Ich sage ihm jedes Mal, dass ich kein Fleisch kaufen möchte, und er steht trotzdem immer wieder vor meiner Tür. Ein anderer kommt von einem Hotel, in dem ich letzte Woche übernachtet habe, und möchte mich zu meinem Aufenthalt dort befragen. Und einer verteilt Schriften mit buddhistischen Sinnsprüchen und verspricht mir jedes Mal heiter und heilig, erst in einem halben Jahr wieder zu aufzutauchen – um dann doch wenige Tage später wieder vor mir zu stehen. Om mani nein danke. Er dreht sich lächelnd um und geht.

Im Treppenhaus steht ein Fenster zum Hof offen. Vogelgezwitscher ist zu hören. Dazwischen mischen sich Menschenstimmen. Einer ruft: “Moin!”. Eine erzählt, dass sie ihren Zug verpasst hat. Ein anderer antwortet, dass Züge heutzutage sowieso nie pünktlich seien. Ein dritter ergänzt, dass es mit Deutschland bergab gehe. Ein vierter weist darauf hin, dass heute “Fridays for Future”-Demonstrationen stattfinden. Ein fünfter meint, dass der rapide Temperaturabfall der letzten Tage ja wohl ein sicheres Zeichen dafür sei, dass die globale Erwärmung nicht statt finde. Einer fordert lautstark, dass die großen amerikanischen Internetkonzerne enteignet und in die Hände ihrer Nutzer übergeben werden müssten. Viele erregte Stimmen halten dagegen; die Argumente sind im Stimmengewirr nicht zu verstehen. Eine trällert die “Ode an die Freude”; von irgendwo klingt der zweite Satz aus Beethovens 30. Klaviersonate. Ein Bär scheint zu brummen, und es hört sich an, als habe er “Döner” gesagt. Ich schüttele den Kopf und schließe die Tür.

Dann wird es Zeit zum Aufbruch. Mein Sohn geht zur Schule. Er macht heute einen Ausflug in den Tierpark, um an der Vorbereitung eines Referats zu arbeiten. Als Thema haben er und sein Schulkamerad sich die Tiger ausgesucht. Ich fahre mit dem Taxi zum Bahnhof. Drei der Leute, die vor unserer Tür gewartet haben, schicke ich noch schnell weg: Es waren Angestellte von Paketlieferdiensten, die mir mitteilen wollten, dass gestern Pakete für mich versandt worden sind. Die übrigen drei Wartenden nehme ich mit auf die Fahrt. Eine Kollegin plant einen Termin für übernächste Woche, und wir besprechen unterwegs, wann wir uns treffen können und worüber wir reden müssen. Eine Nachbarin erzählt mir von ihren Plänen für den Bambus im Garten hinter unserem Haus und wirbt um meine Unterstützung in der Eigentümergemeinschaft. Eine Klientin zeigt mir eine Unterlage zur Vorbereitung für einen Workshop am Montag. Am Bahnhof springen alle drei aus dem Taxi, während ich bezahle. Ich habe noch etwas Zeit, bis mein Zug fährt. Ich kaufe einen großen Chai Latte. In der Arena am Bahnhofseingang findet gerade ein Raid statt. Ich kämpfe schnell mit, um eine Tagesaufgabe zu erledigen, und fange eine Sheinux. Im Zug mache ich mir Gedanken über einen Vortrag, den ich nächste Woche halten werde, und über einen Blog-Artikel über tl;dr. Auf den Feldern blüht der Raps. Irgendwo steht jemand am Feldesrand und fotografiert das Gelb.

Mein Kliententermin später gehört zu einem von jenen Projekten, von denen ich nicht einmal schreiben kann, dass ich nichts darüber schreiben kann. Meine Arbeit hat diesen eigenartigen Charakter, dass die spannendsten Dinge daran sehr oft solche sind, von denen selbst meine engsten Freunde oder Familienmitglieder besser nichts wissen sollten. Wenn ich irgendjemandem erzählen würde, dass ich mit dem Management Board von Facebook an einer Unternehmenskulturdiagnose zur Verbesserung des Führungsstils von Mark Zuckerberg arbeite, wäre das vermutlich das Ende meiner Arbeit nicht nur an diesem Projekt. Es wäre im übrigen auch sachlich falsch, denn das ist ein komplett fiktives Beispiel: Mit Facebook arbeite nicht. Heute sitzen mein Klient und ich uns am Esstisch in seiner Privatwohnung gegenüber. Wir trinken Tee und sprechen über Organisationsveränderungen, Feedback-Modelle, Ergebnisziele, Mentoring, Umsatzwachstum, Führungskräfte-Coaching, Kundenbedürfnisse, KPIs, Balkonpflanzen und Kampfsport. Er spricht viel; ich höre zu, frage nach und fasse zusammen. Er schreibt unsere Ideen mit der Hand in ein kleines Notizbuch. Auf dem Tisch steht ein Strauß Tulpen.

Auf dem Rückweg finde ich in meiner Tasche einen Umschlag mit einem Foto, das meine Schwester mir vor einigen Tagen gegeben hat. Das Foto zeigt ihren Sohn, der auf dem Küchenfußboden weit verstreute Schokostreusel aufwischt. “Für nichtmitabsicht“, steht auf dem Foto. Ich hole im Taxi das Fotoalbum heraus und blättere durch Bilder von Aquarellzeichnungen, Lego-Figuren, Interieurs, Buchwänden und Obstmandalas, bis ich eine freie Seite finde. Ich klebe das Foto ein, schreibe einen kleinen Dialog dazu und stecke das Fotoalbum wieder weg. Auf der Straße sind ungewöhnliche viele Pikachus. Ich fange drei. Am Bahnhof kaufe ich für meinen Sohn einen Lucky-Luke-Comic und für mich Hans Roslings “Factfulness”, das ich – zu meiner Schande – noch nicht gelesen habe. Beim Hineinlesen im Zug bin ich enttäuscht, dass ich von den dreizehn Eingangsfragen zehn richtig beantworte. Bei der Entwicklung der weltweiten Kinderzahl bis 2100, bei den gefährdeten Tierarten und beim Zugang zu Elektrizität liege ich falsch. Bei den Tierarten war mir vom letzten Zoobesuch mit meinem Sohn noch in Erinnerung, dass der sibirische Tiger nach wie vor stark gefährdet ist – das gilt aber offenbar nicht für Tiger in Summe.

Ein Zugbegleiter klopft an die Abteiltür, um meinen Fahrschein zu kontrollieren. Ein Servicemitarbeiter klopft an die Abteiltür, um Kaffee anzubieten. Ein Klient klopft an die Abteiltür, um mich kurzfristig um Hilfe bei der Vorbereitung für seine Präsentation auf der re:publica zu bitten. Gleich zehn Unbekannte auf einmal klopfen an die Abteiltür und fragen nach alten Blog-Artikeln auf liedderdinge. Ich wimmele sie ab und gebe ihnen u.a. eine Querflöte, einen blauen Fisch und eine rosa Schale. Ein fahrender Händler klopft an die Abteiltür, um mir handgedrechselte Holzarbeiten zu verkaufen. Die Kommunikationschefin einer Charity klopft an die Abteiltür, um mir vom Fortschritt eines Projekts zur Unterstützung von Mädchen und Frauen zu berichten. Drei Angestellte von Paketlieferdiensten klopfen an die Abteiltür, um mir mitzuteilen, dass sie heute noch Pakete für mich zustellen wollen. Ein Pfandflaschensammler klopft an die Abteiltür, um nach Flaschen oder Dosen zu fragen. Der Zugbegleiter klopft noch einmal an die Abteiltür, um mir ein Stück Schokolade anzubieten.

Zuhause angekommen, treffe ich einen Paketboten im Treppenhaus, der alle drei Pakete bei sich hat und gerade wieder umdrehen wollte. Ich packe neue Patronen für meinen Drucker, Wilhelm von Humboldts “Schriften zur Bildung” und Anand Giridharadas’ “Winners take all” aus und stecke die Verpackungen ins Altpapier. Aus dem Hof ist wieder Vogelgezwitscher zu hören. Jemand singt Joni Mitchells “Both sides now”. Jemand schimpft laut über Kinder, die zwischen den Mülltonnen Verstecken spielen. Jemand bewirbt mit sonorer Stimme seinen kommenden Auftritt auf der re:publica. Ein anderer klatscht Beifall. Ein dritter kommentiert, dass sein Auftritt genau zu derselben Zeit stattfindet – nur auf einer anderen Bühne. Ich muss dringend zur Toilette. An der blauen Pinnwand hängt nichts mehr von dem, was ich am Morgen gesehen habe. Stattdessen war jemand in Schweden, jemand hatte eine Prüfung, und jemand hat ein neues Yoga-Studio entdeckt. Dazwischen neue Werbeflyer für Flugreisen, Johanniskraut und eine Supermarktkette. Mein Sohn kommt aus der Schule, zeigt mir die Fotos, die er beim heutigen Ausflug von den sibirischen Tigern gemacht hat, und setzt sich dann mit dem neuen Lucky-Luke-Heft zum Lesen hin. Ich telefoniere mit einem Klienten, der meinen Rat für ein Vorstellungsgespräch für eine Vorstandsposition sucht. Es klingelt, und der Vertreter einer Kunsthandlung bringt eine Einladung zu einer Vernissage vorbei. Mein Sohn baut mir ein Fledermaushaus neben mein Häuschen am Fluss. Die Fledermäuse haben noch keine Namen.

Mein Sohn deckt den Tisch in der Küche. Ich wärme Nudeln mit Pilzsahnesauce auf. Er erzählt mir noch mehr vom Zooausflug. Zwei Schulkameradinnen haben die Kängurus als Thema, sind aber nicht voran gekommen, weil sie erst zwanzig Minuten lang die Kängurus und dann zwanzig Minuten lang die Uhr der einen gesucht haben (die jedoch in der Schule liegen geblieben war). Um 19:25 sehen wir gemeinsam die Kindernachrichten an, in denen darüber berichtet wird, dass im Zoo in Hannover vor zwei Wochen drei sibirische Tigerbabies geboren sind. Vom Hof sind Unterhaltungen darüber zu hören, welche Wahlempfehlungen der Wahlomat für die Europawahl gibt. Mein Sohn übt am Klavier Tonleitern in G-Dur und eine vereinfachte Version vom “Marsch” aus Tschaikowskys Nussknacker. Als ihm der Übergang zwischen zwei Teilen misslingt, fängt er an zu weinen und übt unter Tränen weiter, bis die Passage klappt. Auf dem Hof erzählt jemand, dass er vor dem Umgraben im Garten Gänseblümchen und Löwenzahn versetzt hat. Ein anderer bemerkt, wie seltsam es sei, dass es gleichzeitig nach Kälte und nach Flieder rieche. Mein Sohn hisst in seiner Stadt an allen Häusern weiß-blau-rote Flaggen. Auf dem Balkon sind ein Mauzi, ein Wablu und ein Evoli. An die blaue Pinnwand hat einer ein rotes Herz gepinnt.

Es wird dunkel.


* Dieser Titel ist keine billige Trittbrettfahrerei auf dem diesjährigen Motto der re:publica, sondern eine in einschlägigen Kreisen gängige Abkürzung für: “tangled lives; digital realities”. “Tangled lives; digital realities” beschreibt die vollständige Verwirkung der früher als “real life” bezeichneten Erlebnissen und Erfahrungen mit den Erlebnissen und Erfahrungen, die heute (noch unzulänglich) über digitale Endgeräte vermittelt werden. Experten streiten darüber, ob die fortschreitende Immersion in tl;dr eine positive Entwicklung darstellt, weil sie die disparaten Wahrnehmungswelten des “Realen” und des “Digitalen” oder “Virtuellen” wieder zu einer kohärenten Wahrnehmungswelt zusammenführt, mit der sich der menschliche Geist dann in einem kontinuierlichen Prozess der konstruktiv-kritischen Apperzeption auseinandersetzen kann, oder ob wir es hier mit einer gefährlichen Tendenz zu tun haben, durch die Unterscheidungs- und Urteilsvermögen der Menschen so verwischt werden, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Schein und Sein auseinanderzuhalten. Ich enthalte mich hier jeder Stellungnahme in dieser Debatte.

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