Seit Ende der vergangenen Woche gibt es auf Instagram einen Account mit dem Handle 12062020olympia[1]. Innerhalb weniger Stunden zog der Account so viele Follower an, dass Instagram ihn für einen Bot hielt und vorübergehend deaktivierte[2]. Der Account gehört zu einer Crowdfunding-Kampagne auf Startnext, die Geld für “Die größte BürgerInnenversammlung Deutschlands im Olympiastadion Berlin mit bis zu 90.000 Menschen” einsammelt. Auf der Unterstützungsseite motiviert die Kampagne mögliche Interessent*innen mit der folgenden Einleitung:
“Stell dir vor, es gibt einen Tag, an dem du dich auf den Weg machst. Stell dir vor, es gibt einen Tag, der einzig allein dafür da ist, die Welt zu einem zukunftsfähigeren Ort zu gestalten. Stell dir vor, dass du ein Teil davon bist. Stell dir vor, es gibt ein riesiges Stadion. Darin befinden sich 90.000 Weltbürger*innen, die genau das Gleiche wollen wie du. Ein riesiger Kreis. Eine Bewegung. Eine Veränderung. Stell dir vor, diesen Tag wird es wirklich geben. Bist du dabei?”
Gestern früh habe ich zwei Tickets für die Veranstaltung gekauft. Dabei sehne mich nicht danach, einen Sommertag des nächsten Jahres mit 89.998 anderen Menschen in einem Stadion zu verbringen. Im Gegenteil: Der Appell an Gemeinsamkeit, der keinen einzigen konkreten Inhalt transportiert, macht mich eher nachdenklich. “Niemals zeigt sich deutlicher”, schrieb Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, “wie sehr gerade auf den Ideologien […] die Anziehungskraft der Bewegungen beruht, als wenn die Massenredner, anstatt zu sagen, was sie konkret zu tun gedenken, unter ungeheurem Beifall auseinandersetzen, dass sie die verborgenen Kräfte entdeckt haben, welche ihnen und allen, die mit ihnen gehen, unweigerlich Glück bringen werden”[3].
Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich glaube ich nicht, dass die Initiator*innen der Kampagne eine totalitäre politische Machtübernahme anstreben. Sie betonen ja ausdrücklich: “Wir lieben die Demokratie und stellen uns ihren Gegnern entgegen” – und sind vermutlich in ihren jeweiligen Berufs- und Tätigkeitsfeldern ohnehin zu engagiert (und zu erfolgreich), um einen Putsch auch nur zu planen. Aber: Mit dem gewählten Format und mit der gewählten Rhetorik stehen die Initiator*innen der Kampagne – bewusst oder unbewusst – zumindest im Graubereich wichtiger Grundprinzipien demokratischer Meinungs- und Entscheidungsfindung. Das ist problematisch – und darüber müssen wir diskutieren. Oder ganz polemisch zugespitzt: Ehe wir uns auf ein Experiment wie 12062020olympia einlassen, müssen wir darüber sprechen, ob wir die totale Followkratie wollen.
Um die Diskussion anzustoßen, beschreibe ich in diesem Blog-Beitrag zunächst etwas ausführlicher, worum es bei 12062020olympia eigentlich geht. Anschließend erläutere ich an zwei Aspekten, was schief gehen könnte – inwiefern nämlich Format und Rhetorik der Kampagne Prozesse sich (wenn auch vermutlich unbeabsichtigt) von Grundprinzipien demokratischer Meinungs- und Entscheidungsfindung entfernen könnten. Und zum Abschluss gebe ich einige Tipps zum Umgang mit der Kampagne für alle, die sich – dabei, dafür oder dagegen – engagieren wollen.
1. Worum geht es eigentlich?
In den vergangenen Monaten die (Berliner) Startup- und Influencer-Szene das Petitionsrecht als eine bequeme Hintertür in die Gesetzgebungsprozesse der Bundesrepublik Deutschland für sich entdeckt. Im Frühjahr sammelte eine Petition zur “Besteuerung von Periodenprodukten mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7%” 81.425 Unterschriften. Die Senkung des Mehrwertsteuersatzes wurde daraufhin in das Jahressteuergesetz 2019 integriert und am 8. November 2019 im Bundestag beschlossen[4]. Im Oktober 2019 gewann eine Petition zur “CO2e-Kennzeichnung auf Lebensmitteln” 57.067 Mitzeichner[5]. Die Unterzeichnung der letztgenannten Petition wurde durch eine großangelegte Plakataktion des schwedischen Lebensmittelproduzenten Oatly beworben; hinter der erstgenannten Petition stand neben anderen der Kondom- und Periodenprodukthersteller einhorn, dessen Gründer auch zu den Initiatoren von 12062020olympia zählt[6].
Zum Petitionsrecht[7]: Das Petitionsrecht ist im Grundgesetz in Artikel 17 verankert. Dort heißt es: “Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden“. Seit 2005 gibt es in Deutschland ein Online-Petitionsrecht, verbunden mit der Möglichkeit, öffentliche Petitionen einzureichen. Dabei können Unterschriften direkt im Internet abgegeben werden, statt mühsam auf Unterschriftenlisten auf Papier gesammelt zu werden. Über den Umgang mit eingegangenen Petitionen entscheidet der Petitionsausschuss des Bundestages. Wenn Petitionen innerhalb von vier Wochen mindestens 50.000 Unterschriften sammeln, können ihre Initiator*innen über ihr Anliegen in einer öffentlichen Sitzung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit Abgeordneten diskutieren. Und: Grundsätzlich wird jede Petition – insbesondere auch jede Bitte zur Gesetzgebung des Bundes – parlamentarisch geprüft.
Nach den Erfolgen der beiden genannten Petitionen ist klar: Wer ausreichend schnell – nämlich innerhalb von vier Wochen – mindestens 50.000 Unterstützer für eine beliebige Sache gewinnen kann, hat über das Petitionsrecht einen kurzen Weg zur Aufmerksamkeit des Bundestags und damit prinzipiell auch zur Gesetzgebung bzw. Gesetzesänderung im Sinne der Petition. Und es ist auch klar: Wer über seine Anhängerschaft auf sozialen Medien direkten und unmittelbaren Zugriff auf viele Follower hat, kann diesen Mechanismus leicht für sich aktivieren.
Die Kampagne 12062020olympia geht nun über die Idee der Einzelpetition hinaus und beantwortet – in bester Startup-Manier – die Frage: “How does it scale?”. Statt mühsam eine Petition nach der anderen zu starten, zu bewerben und durch die Institutionen zu tragen, wollen die Initiator*innen “als konkrete Maßnahme live im Stadion mehrere Petitionen zum Quorum führen und im Bundestag einreichen” – oder auch: “Petitionen im Sekundentakt” bzw.: “Veränderung in Lichtgeschwindigkeit”. Tatsächlich: Wenn 90.000 Menschen an einem Ort versammelt sind (und Zugang zum Internet haben), kann theoretisch innerhalb von wenigen Stunden für viele Petitionen das Quorum erreicht werden, für das sonst wochenlange Werbe- und Aktivierungsmaßnahmen notwendig wären[8].
Was auf der Unterstützungsseite nicht explizit deutlich wird: Damit die geplante Live-Unterzeichnung möglich ist, müssen – aufgrund der Regelungen für öffentliche Petitionen – die Petitionen bereits vorher formuliert, beim Petitionsauschuss eingereicht und als öffentliche Petitionen angenommen worden sein. Zu der Frage, wie dieser Prozess genau ablaufen soll, schreiben die Initiator*innen lediglich: “Die Inhalte, das Programm, die Petitionen sowie ein Starterpaket für die Teilnehmer*innen (ein Aktivist*innen-Rucksack) werden wir mit euch zusammen und unseren Partnern in den kommenden Monaten erarbeiten”.
2. Was könnte schief gehen?
Es ist dringend notwendig, dass wir darüber nachdenken, wie wir unsere politischen Strukturen und Prozesse in den Zeiten digitaler Kommunikation weiterentwickeln – oder auch: neu erfinden – wollen. Parlamente, Parteien und andere Politikmechanismen, deren Wurzeln im 17., 18. oder 19. Jahrhundert liegen, sind für die Regelung des Zusammenlebens in Zeiten des Internets ungefähr so geeignet wie eine Pferdekutsche für eine Reise zum Mars[9]. Daraus folgt allerdings nicht, dass ausgerechnet eine große Bürger*innenversammlung der Schlüssel zur Demokratie der Zukunft ist, nicht zuletzt weil – dem Internet sei Dank – Information, Austausch und Abstimmung heutzutage ja gerade auch ohne physische Zusammenkünfte möglich sind.
Tatsächlich glaube ich, dass das geplante Format und die verwendete Rhetorik von 12062020olympia genau jene demokratischen Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozesse zu untergraben drohen, die die Initiator*innen eigentlich unterstützen wollen. Statt “die geballte Power des geilen Systems der Demokratie”[10] zu nutzen, könnten die Initiator*innen damit – vermutlich: unbeabsichtigt – der Demokratie mehr schaden als helfen.
i) Das Format: Demokratie als Rockspektakel?
Im ersten Teil des geplanten Programms – so beschreibt es die Unterstützungsseite – “werden [sowohl] bekannte als auch unbekannte Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen auf der großen Bühne ihre Lösungen aus allen wichtigen Arbeits- und Forschungsfeldern vorstellen. Wir wollen diese Menschen feiern, wie wir ansonsten nur Rockstars feiern”. Leider haben politische Großveranstaltungen, bei denen Menschen gefeiert werden, eine durchaus gemischte Historie. Zwei Beispiele: Es gab die “I have a dream”-Rede, die Martin Luther King Jr. am 28. August 1963 vor 250.000 Bürgerrechtskämpfern hielt – und es gab die “Wollt Ihr den totalen Krieg?”-Rede, die Josef Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast vor 14.000 Zuhörern hielt. Beide Redner wurden für ihre Reden vom Publikum gefeiert – der eine gilt bis heute als eines der größten Vorbilder für den gewaltfreien Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit; der andere als einer der raffiniertesten Propagandisten des Faschismus. Mit anderen Worten: Dass jemand für einen Auftritt vor großem Publikum gefeiert wird, sagt nichts über die Qualität seiner politischen Botschaft aus.
Zudem: Die Petitionen, die im Stadion in Echtzeit mitgezeichnet werden sollen, müssen – wie oben beschrieben – bereits im Vorfeld formuliert, eingereicht und anerkannt worden sein. Wer auf der Bühne auftritt, kann somit nur noch die Aufgabe haben, quasi als Cheerleader das Publikum zur Unterzeichung vorgefertigter Eingaben zu motivieren. Das auf der Unterstützungsseite ausgerufene hehre Ziel, “gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, sie zu präsentieren, an ihnen zu lernen, darüber zu streiten, zu staunen und am Ende Demokratie zu leben”, kann in der Praxis bei dem Event im Stadion für diese Petitionen nicht mehr erreicht werden[11]. Damit besteht die Gefahr, dass nur jene Aktivist*innen eine Bühne bekommen, die sich für die vorbereiteten Vorschläge aussprechen – nicht aber jene, die möglicherweise andere oder konträre Lösungen vorschlagen würden. Und: Es besteht die Gefahr, dass Wissenschaftler*innen nur für bestimmte Ergebnisse Aufmerksamkeit bekommen – und nicht für ihre eigentliche wissenschaftliche Mission, Fragen zu stellen, Hypothesen zu entwickeln und diese dann zu widerlegen (oder zu bestätigen).
Dazu kommt: Die Teilnahme an 12062020olympia kostet Geld – mindestens EUR 29,95 für ein einzelnes Ticket, insgesamt mindestens EUR 1.800.000[12]. Dabei entstehen die Kosten nicht vorwiegend durch die Erarbeitung und Veröffentlichung der geplanten Petitionen, und auch unterschreiben könnten Unterstützer*innen eigentlich einfach zuhause am Computer. Die Kosten entstehen vielmehr durch die Entscheidung, die Mitzeichnung der Petitionen in ein Event im Olympiastadion einzubinden. “Eine Großveranstaltung inkl. Stadionmiete, Security, Bühne, Technik, Gema etc. kostet eine Menge und deswegen müssen wir mind. 60.000 Tickets verkaufen”, heißt es auf der Unterstützungsseite, und: “Es entstehen zusätzliche Kosten, wenn man das Stadion komplett voll macht mit 90.000 Menschen. Zum Beispiel muss der Rasen komplett abgedeckt werden”.
Demokratie lebt von Meinungsvielfalt, von der konstrukiven Auseinandersetzung über und zwischen verschiedenen Positionen und davon, dass alle – unabhängig von ihrer finanziellen Situation – an der politischen Entscheidungsfindung mitwirken können. Wenn die Initiator*innen von 12062020olympia Meinungs- und Entscheidungsfindung (mit-) gestalten wollen, müssen sie der Meinungsvielfalt Raum geben und den Entscheidungsfindungsprozessen Zeit gönnen. Das geschieht nicht durch lautstarke Zuschauerchöre oder wummernde Bässe, sondern durch gut aufbereitete Informationen, aufmerksames Zuhören, besonnenen Austausch von Argumenten und ein Gespür für die Zwischentöne. Dabei müssen die Initiator*innen auch sicherstellen, dass alle, die das wollen, Zugang zu diesen Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozessen haben. Die Zeiten, in denen Stimmrechte von finanzieller Leitungsfähigkeit abhingen, haben wir in Europa spätestens seit dem 19. Jahrhundert hinter uns gelassen – zugunsten eines allgemeinen und gleichen Stimmrechts. Eine Initiative, die politische Beteiligung an finanzielles Engagement bindet, steht hierzu im Widerspruch[13].
Demokratie ist kein Rockspektakel, und wir tun unseren demokratischen Prozessen keinen Gefallen, wenn wir sie eventifizieren – schon gar nicht, wenn die eigentlichen Entscheidungen bereits im Vorfeld des Events getroffen worden sein müssen. Dazu entstehen durch die Eventifizierung erhebliche Kosten, die sachlich keinen Beitrag zur Verbesserung der Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozesse leisten und die faktisch die Gruppe der möglichen Diskussionsteilnehmer*innen einschränken. Ein Format, in dem ohnehin begeisterte – und: zahlungsfähige und -willige – Fans durch markenkerntreue Cheerleader*innen auf im vorhinein vorbereitete Entscheidungen eingeschworen werden, wäre Followkratie – nicht Demokratie.
ii) Die Rhetorik: Demokratie als Wohlfühloase?
Die Menschen, so beschreibt es die Unterstützungsseite, sollen nach dem Event “mit dem guten Gefühl nach Hause gehen, einen weiteren Schritt in Richtung Veränderung unternommen zu haben”, allen Teilnehmer*innen soll “das Gefühl [ge]geben [werden], dass sie auch als Einzelpersonen Veränderungen bewirken können”, so dass sie “diesen Eindruck in ihr persönliches Umfeld, ihre Stadt, ihre Initiative mitnehmen und sich dort weiter engagieren”; die Initiator*innen wollen “euch und uns als Bürger*innen in dem Gefühl zu reaktivieren, wirksam zu sein”. Erklärtes Ziel von 12062020olympia ist die “emotionale Aufladung” des Publikums – und nützen soll die Initiative “denen, die sich machtlos fühlen”. Im besten Geiste professionellen Marketings überzeugen die Initiator*innen mit dieser Rhetorik nicht durch ein Produkt (oder gar: ein Konzept), sondern sie preisen ein Erlebnis an und versprechen die damit verbundene (positiv besetzte) Erfahrung: Wer zu 12062020olympia geht, tut sich etwas Gutes. Oder, wie das Video zur Kampagne es formuliert: “Ein Wunder für Dich! Für mich! Für unsere Kinder!”.
Bezüglich der konkreten Fragen, um die es bei der Veranstaltung gehen soll, bleiben die Initiator*innen dagegen vage. “An diesem Tag kommen die renommiertesten Expert*innen aus allen Bereichen zusammen, um die Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Zeit gebündelt zu präsentieren”, heißt es, und etwas weiter unten: “Klimawandel, Rechtsruck, globale Ungerechtigkeit… Am 12.06.2020 wollen wir einen entscheidenden Anstoß dafür geben, unsere Gesellschaft, Politik und Wirtschaft so umzugestalten, dass aus unserer Zukunft wieder eine handfeste Perspektive für unseren Planeten und uns als seine Bewohner*innen erwächst”. Welche konkreten Themen oder Fragen zur Abstimmung stehen werden, steht (noch?) nicht da[14]. Geht es um die Abschaffung des Individualverkehrs? Oder um ein Verbot von Plastikhüllen für Smartphones? Um die Umgestaltung des Wahlsystems zur Einhegung extremer Parteien? Oder um öffentliche Auftrittsverbote für Politiker*innen außerhalb von Wahlveranstaltungen? Um die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens? Oder um eine Umlenkung von Geldern des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung? Oder? Oder? Oder? Und: Wie werden Interessenskonflikte gelöst und wie werden Meinungsverschiedenheiten in den Vorschlägen abgebildet? Wird es beispielsweise Petitionen mit gegensätzlichen Zielsetzungen geben, wenn sich dafür jeweils genügend Unterstützer*innen finden[15]?
Demokratie ist keine inhaltsfreie Wohlfühloase, sondern das mühsame Ringen um sachlichen Interessenausgleich im Dienste der Allgemeinheit. Dafür muss transparent sein, wer für welche Programme und Projekte steht und wie diese realisiert werden sollen. Zu Recht werden Politiker*innen kritisiert, die sich nicht festlegen wollen, was ihre Ziele sind und was genau sie für die Bürger*innen erreichen wollen. Und: Keine Debatte wird besser, wenn sie sich emotional auflädt. Diskussionen, in denen die Teilnehmer*innen ihre Positionen leidenschaftlich verbissen, ängstlich verkrampft oder wütend erregt vorbringen, werden dadurch weder differenzierter noch ergebnisorientierter[16]. Aus einer politischen Entscheidungsfindung werden niemals alle Beteiligten einfach nur mit einem “guten Gefühl” herausgehen, weil naturgemäß jede und jeder Abstriche an seinen ursprünglichen Zielen und Plänen in Kauf nehmen muss. Das beste Gefühl, das dabei entstehen kann, ist das Gefühl, dass alle voneinander lernen, gegenseitig ihre Ziele und Pläne besser verstehen und in vernünftiger Weise Kompromisse geschlossen haben.
Wenn die Initiator*innen von 12062020olympia Politik (mit-) gestalten wollen, müssen sie offenlegen, was die konkreten Ziele ihrer Kampagne sind und wer konkret dabei welche Rolle spielen wird. Nur dann können sich mögliche Unterstützer*innen eine Meinung dazu bilden, ob und wie sie sich für die oder in der (oder: gegen die) Kampagne engagieren wollen. Eine Rhetorik, die alleine das Wohlfühlen in der Gemeinschaft mit Blick auf eine irgendwie (aber: wie?) bessere Zukunft beschwört, ist nicht demokratisch, sondern rückt in gefährliche Nähe totalitärer Argumentationsketten. “Innerhalb der Bewegung”, schrieb Hannah Arendt, “genügt die ideologisch begründete Behauptung, dass die Bewegung im Begriff stehe, die gesamte Menschheit zu organisieren, vollkommen, denn wer diese Behauptung ernst nimmt, schliesst sich ja von der zukünftigen Menschheit überhaupt aus, wenn er die Forderung der totalen ‘Treue’ nicht erfüllt”[17].
3. Was können wir tun?
Angenommen, wir kommen zu dem Schluss, dass weder wir noch die Initiator*innen von 12062020olympia die totale Followkratie wollen, sondern dass wir alle miteinander eigentlich wirklich gerne die geballte Power des geilen Systems der Demokratie nutzen möchten, um für konkrete politische Probleme unserer Zeit nachhaltige wirksame Lösungen zu finden: Was können wir tun?
Was die Initiator*innen von 12062020olympia angeht, so stehen meine Tipps eigentlich schon oben: Überlegt noch einmal, ob ein Rockspektakel wirklich das beste Format für das ist, was Ihr erreichen wollt. Oder / und überlegt, welche anderen Formate es gibt, in denen sich die Meinungs- und Entscheidungsfindung im Vorfeld der Petitionsformulierung im Zeitalter digitaler Medien kreativ orchestrieren lässt. Schafft Foren, in denen alle sich beteiligen können – egal, ob sie Tickets kaufen oder nicht. Versprecht den Unterstützer*innen nicht, dass sie sich gut fühlen werden, sondern erklärt ihnen, welche Themen zur Diskussion stehen werden und wie darüber debattiert und entschieden werden wird.
Was alle anderen angeht: Wenn Euch die Demokratie am Herzen liegt, kauft Tickets für 12062020olympia, damit Ihr verfolgen könnt, wie die Initiative sich entwickelt, welche Fragen zur Debatte gestellt werden und welche Petitionen entstehen. Informiert Euch in Ruhe, und unterschreibt dann die Petitionen, die Ihr tatsächlich unterstützen wollt – entspannt zuhause am Computer, engagiert mit Freunden im Café oder auch öffentlichkeitswirksam auf Euren Social Media Accounts. Wenn Ihr einen Aktivist*innen-Rucksack braucht, geht am 12. Juni 2020 zum Olympiastadion in Berlin und holt Euch einen ab. Und: Wenn Ihr ein Rockspektakel erleben wollt, von dem Ihr mit einem guten Gefühl nach Hause geht, kauft Tickets für die 2020er Konzerte von Aerosmith, Feine Sahne Fischfilet, Lady Gaga, Madsen, Seeed oder Sting.
Seid Ihr dabei?
[1] Die Startnext-Seite der Initiative ist hier. Alle im Text angeführten Zitate habe ich – unter Bereinigung diverser Tippfehler – von dieser Seite kopiert bzw. aus dem dort verlinkten Video transkribiert [abgerufen am 23. und 24. November 2019]. BACK TO TEXT
[2] So geschildert in einem Artikel auf ZEIT Online vom 21. November 2019 hier [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[3] Arendt, H. (1955). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 514.BACK TO TEXT
[4] Informationen zur Petition 91015 finden sich auf dieser Seite des Petitionsausschusses; das Protokoll der 124. Bundestagssitzung vom 8. November 2019 ist hier [abgerufen am 23. November 2019] .BACK TO TEXT
[5] Informationen zur Petition 99915 finden sich hier [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[6] Vgl. z.B. diesen Hintergrundartikel im Handelsblatt vom 13. November 2019 [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[7] Die folgenden – und noch viel mehr – Informationen finden sich auf der Internetseite des Petitionsauschusses des Deutschen Bundestags hier [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[8] In der Gesamtkalkulation kommt es für die Initiator*innen möglicherweise sogar billiger, einmal das Olympiastadion zu mieten und ein Crowdfunding zur Finanzierung dieses Events zu bewerben, als für zahlreiche Petitionen jeweils einzeln Marketing zu betreiben.BACK TO TEXT
[9] Darüber habe ich in einem Artikel hier auf dem Blog vor einiger Zeit ausführlicher nachgedacht [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[10] Das Zitat stammt aus dem Video, das auf der Unterstützungsseite der Initiative auf Startnext eingebettet ist. Auf Youtube ist das Video unter diesem Link zu finden [abgerufen am 24. November 2019].BACK TO TEXT
[11] Zur Differenzierung: Natürlich könnte über andere als die bereits eingereichten Petitionen diskutiert werden, und natürlich wäre eine kontroverse Diskussion auch in dem Falle möglich, in dem ausdrücklich vorgesehen ist, dass zu bestimmten Themen jeweils mehrere Petitionen zur Wahl stehen.BACK TO TEXT
[12] Die Crowdfunding-Kampagne bietet – wie bei der Finanzierung auf entsprechenden Plattformen üblich – verschiedene Kategorien der möglichen finanziellen Unterstützung, von “1 ‘für mich’ Ticket” à EUR 29,95 (wahlweise auch in der Variante “1 ‘für mich und die Umwelt’ Ticket” à EUR 31,40, mit dem die CO2-Emissionen der Anreise kompensiert werden können – wobei allerdings nicht erklärt wird, wie genau dieser Ausgleich kalkuliert ist) – bis zum “Obergönner*in Ticket” für EUR 1.800.000, mit dem dann die komplette Veranstaltung finanziert wäre. Vermutlich um eine Übernahme der Veranstaltung durch Dritte zu verhindern, sind alle Ticket-Angebote, die über das Einzelticket hinausgehen, so gestaltet, dass die zusätzlich erworbenen Tickets – “für mich und für dich”, “für 100” oder “für 1.000” – verlost werden sollen. Dabei steht auf der Seite allerdings (noch?) nichts darüber, wie genau die Verlosung durchgeführt werden soll und ob dann auch Reisekosten für diejenigen übernommen werden, die ein solche Ticket gewinnen, sich die Anreise selsbt aber nicht leisten können.BACK TO TEXT
[13] Auch die Verlosung zusätzlich erworbener Tickets löst diesen Widerspruch nicht auf, solange der Zugang zu 12062020olympia insgesamt beschränkt ist. Auf der Unterstützungsseite ist die Rede davon, dass man sich für die Teilnahme “bewerben” kann – das klingt nach Auswahl, nicht nach freiem Zugang.BACK TO TEXT
[14] Weiter unten auf der Seite werden noch die gemeinsamen Überzeugungen der angesprochenen Unterstützer*innen aufgelistet, die eine etwas genauere Vorstellung davon geben könnten, in welche Richtung die Petitionen gehen mögen: “Willkommen heißen wir am 12. Juni 2020 alle Weltbürger*innen, sie sich mit uns auf folgende Punkte zu verständigen wissen: Wir wollen Lösungen finden für die in der Menschheitsgeschichte bislang beispiellose Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitskrise, die uns als Menschheit vor existenzielle Herausforderungen nie gekannter Qualität stellt. Wir glauben, dass die Umweltkrise nicht von sozialen Aspekten isoliert betrachtet werden kann. Deshalb widmen wir uns über das Klima hinaus auch Themen wie globale Ungerechtigkeiten, dem in unserer Gesellschaft tief verankertem Rassismus oder der Gleichstellung der Geschlechter. Wir wollen uns gemeinsam ermächtigen und dabei gleichsam den andren offen begegnen, ihnen wieder zuzuhören lernen. Wir lehnen jede Form von Diskriminierung ab – egal welcher Natur. Wir begegnen uns respektvoll unabhängig von Kriterien wie Identität, Herkunft, Meinung oder unseres Geschlechts. Wir streben Chancengleichheit als gesellschaftliche Notwendigkeit an. Wir lieben die Demokratie und stellen uns ihren Gegnern entgegen. Wir vertrauen auf wissenschaftliche Erkenntnisse”.BACK TO TEXT
[15] Selbst wenn die Erwiderung auf diese Fragen sein sollte, dass die Themensetzung erst in den kommenden Wochen und Monaten stattfindet: Genauso unklar bleibt, wer die konkrete Themen dann vorschlagen und wer in welcher Form die Überführung dieser Themen in Petitionen übernehmen wird. Kommen die Themen aus dem Kreis der Initiatoren? Aus dem Kreis der aktuellen Partner – genannt werden: “FridaysForFuture, ScientistsForFuture (beratend), EntrepreneursForFuture, Centre for Feminist Foreign Policy, Deutschplus e.V., Mein Grundkeinkommen e.V, PEOPLE Festival, PxP Festival und und und”? Oder – basisdemokratisch innerhalb der Community – aus der Gruppe der Unterstützer*innen? Wenn letzteres, wie soll die Diskussion organisiert werden? Und: Wie werden dann Menschen gehört, die sich nicht zur finanziellen Unterstützung verpflichten können oder wollen, aber einen inhaltlichen Beitrag leisten möchten?BACK TO TEXT
[16] Über das Phänomen der “Emokratisierung” habe ich im Sommer 2018 eine Serie von mehreren Blog-Beiträgen geschrieben. Die Einleitung ist hier; die folgenden Beiträge sind leicht über die Kategorie “Emocracy” zu finden [abgerufen am 23. November 2019].BACK TO TEXT
[17] Arendt, H. (1955). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 486.BACK TO TEXT
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