Egal, was passiert: Die Schuld bekommen dieser Tage immer einzelne Menschen. Der Fußballbundestrainer soll zurücktreten, weil die deutsche Fußballnationalmannschaft (inklusive Tross) in den Vorrundenspielen mies gespielt hat. “Das Drama der Angela Merkel” titelt selbst die meist abgewogene Zeitung DIE ZEIT in dieser Woche – und reduziert die komplexe Frage der zukünftigen Regelung von Zuwanderung nach Europa auf eine persönliche Machtkrise der Kanzlerin. Das sind nur die gerade zufällig aktuellen Beispiele. Festnahmen von Top-Managern, Skandale um (Pseudo-) Prominente oder Angriffe gegen Politiker aller Couleur sind seit Wochen (Monaten? Jahren?) an der Tagesordnung. Und im täglichen Kleinkrieg der sozialen Medien sind es ebenfalls die einzelnen Nörgler, Welt(untergangs)erklärer, Verschwörungsverliebten oder zufällig falsch Gekleideten, die von anderen erst verwarnt, dann übel beschimpft und schließlich geblockt oder angezeigt werden.
Probleme, so scheint es, entstehen, weil einzelne Menschen sie dazu machen oder gemacht haben – und im Umkehrschluss: Diese einzelnen Menschen aus der Diskussion auszuschließen, erscheint als verlockend einfache Lösung. Denn: Wenn ein Mensch das Problem geschaffen hat, dann muss ja die Entfernung des Menschen auch die Entfernung des Problems bedeuten. Schon die Sprache schreit hier laut auf: Menschen aus Positionen (oder Facebook-Gruppen) zu entfernen, aus Debatten (oder Foren) auszuschließen, in Timelines zu blocken oder im “echten Leben” zu “ghosten”, ist bildsprachlich nicht mehr weit entfernt von der Vorstellung, dass Menschen an sich “beseitigt” werden könnten. Aber: Niemand hat das Recht, über die Existenzberechtigung eines anderen Menschen – oder ganzer Gruppen von Menschen – zu urteilen. Wenn einer das doch tut, führt es unweigerlich früher oder später in die Katastrophe.
Zurück zum Thema: Wer annimmt, dass die Menschen, die – absichtlich oder unabsichtlich, geplant oder ungeplant, langfristig oder kurzfristig, strukturell oder zufällig – in ein Problem verwickelt sind, automatisch auch die volle und alleinige Verantwortung für das Problem tragen (müssen), liegt falsch. Das soll nicht heißen, dass es nicht Fälle gibt, in denen einzelne vorbildlich handeln, indem sie die Verantwortung für ein Problem übernehmen – das kommt durchaus vor und kann durchaus Sinn machen. Aber: Die allermeisten Probleme sind nicht 1:1 identisch mit irgendeiner Person, sondern haben vielfältige Ursachen. Wer einzelnen die Schuld gibt, ihre Entfernung fordert und glaubt, damit ein Problem lösen zu können, irrt – und spielt zudem (s.o.) mit den Funken, die das fatale Lauffeuer von Verleumdung, Niedertracht, Gewalt und Verfolgung entfachen können.
Eigentlich ist es genau umgekehrt: Wer Probleme mit einzelnen Menschen identifiziert, erreicht damit vor allem, dass er/sie sich selbst von jeglicher Verantwortung für das Problem freisprechen kann – trägt dadurch aber gerade nicht zur Lösung des Problems bei. Natürlich: Ein Missbrauchsopfer, das versteht, dass der Täter der Übeltäter war und sich hierdurch aus einer Spirale von Schuld und Selbstvorwürfen befreit, hat ein sehr wichtiges Problem gelöst. Aber: Um solche Fälle geht es hier nicht. Die allermeisten, die in diesen Tagen auf einzelne Menschen zeigen, um Probleme zu lösen, sind keinesfalls direkte Opfer eines übergriffigen Missbrauchs durch genau diesen einzelnen Menschen. Joachim Löw hat keinen einzigen Bundesbürger eigenhändig verprügelt, und Angela Merkel hat keinen einzigen Bundesbürger wochenlang in ein Kellerloch eingesperrt. Das einzige Problem, das diejenigen lösen, die zur Problemlösung auf andere zeigen, ist das, das sie möglicherweise hätten, wenn sie ernsthaft darüber nachdächten, welchen Anteil sie selbst am Problem haben oder was sie zu seiner Lösung beitragen könnten. Das ist Selbstschutz, gepaart mit Selbstgefälligkeit – und ein Wegducken vor der Arbeit, die es kostet, Probleme tatsächlich anzugehen.
Die systemische Psychotherapie kennt das Phänomen, dass Probleme in Familien, Gruppen oder Organisationen, die scheinbar ausschließlich durch einzelne Mitglieder verursacht werden, von anderen übernommen werden, wenn diese Mitglieder ausscheiden: Die Gewalt in der Familie hört nicht automatisch auf, wenn die schlagende Familienmutter in Therapie geht; die Diskussionen in der Einhornzuchtgruppe auf Facebook bleiben angespannt, auch wenn die größte Einhornskeptikerin aus der Gruppe geworfen wurde; die politisch motivierten Netzwerke im Unternehmen funktionieren weiter, auch wenn die intrigante CEO abgetreten ist. Und ebenso klar ist: Die deutsche Fußballnationalmannschaft wird nicht dadurch Weltmeister, dass ihr jetziger Trainer vom Platz geht, und die Herausforderungen der globalen Migration, denen Europa sich stellen muss, werden nicht dadurch gelöst, dass ein Minister oder eine Kanzlerin ihren Posten räumen. Das Problem geht nicht mit vom Platz und räumt seinen Posten nicht – vermutlich sogar noch weniger, wenn es sich bei den Menschen, die dafür die Verantwortung übernehmen, um solche handelt, die ehrlich und ernsthaft versuchen, einen Beitrag zur Lösung zu leisten.
Hinzu kommt: Wer fürchten muss, für ein Problem alleine verantwortlich gemacht zu werden, das er oder sie gerade zu lösen versucht, gewinnt dadurch meist nicht an Gelassenheit, Kreativität, Souveränität oder Weitblick. Wer unter ständiger Beobachtung steht, handelt vorsichtig, hält am Bekannten fest, wird unsicher und hangelt sich nur noch von Minute zu Minute. An sich war es ein geschickter Schachzug des DFB, den Vertrag des Fußballbundestrainers bereits vor dem Turnier zu verlängern – dass dies als psychologischer Ansporn nicht für die gesamte Mannschaft gereicht hat, steht auf einem anderen Blatt. Menschen lösen Probleme dann am besten, wenn sie mentalen Abstand zu ihnen haben – nicht, wenn sie sich mit ihnen identifizieren (oder mit ihnen identifiziert werden). Man nennt diesen Abstand “Objektivität”, und es gibt gute Gründe dafür, bei der Lösung von Problemen diese Haltung der persönlichen Involviertheit vorzuziehen. Für den, der nur seine eigene Perspektive sieht, ist jede Auseinandersetzung ein Kampf, in dem einer verlieren muss – und das sollte natürlich besser der oder die andere sein. Lösungen, die verschiedene Perspektiven einbeziehen, kann nur finden, wer über den Perspektiven steht und zwischen ihnen wechseln kann. Wenn wir Probleme mit Personen gleichsetzen, verlieren wir – kollektiv und individuell – die Fähigkeit, uns um die wirklichen Probleme wirklich zu kümmern.
Coaches, Psychologen und Psychotherapeuten verbringen in ihrer täglichen Arbeit viel Zeit damit, Menschen dabei zu helfen, sich von ihren Problemen so weit zu entfernen, dass sie nicht mehr das Problem sind, sondern das Problem haben. Wenn das gelingt, führt es im allgemeinen bei den Klienten oder Patienten zu höherem Wohlbefinden, größerer Handlungsfreiheit und klareren Zukunftsperspektiven. Wer Probleme mit einzelnen (anderen) Menschen identifiziert, treibt diesen Therapieansatz ein Stück zu weit: Er ist zwar das Problem los – hat aber in demselben Atemzug den anderen zum Problem gemacht. In der Folge gibt es niemanden mehr, der das Problem hat, sondern nur noch den anderen, der das Problem ist. Da man mit einem Problem nicht diskutieren kann, diskutiert man dann eben mit Gleichgesinnten darüber – das stärkt das Ego und schützt vor dem Unbehagen, sich vielleicht doch mit einem (anderen?) Problem beschäftigen zu müssen, das man selbst haben könnte. Und wenn das Unbehagen sich doch einmal rührt, dann beharrt man darauf, dass der andere Schuld sei und verschwinden müsse – und mit ihm das Problem. Was, wie wir oben gesehen haben, nicht funktioniert.
Niemand ist das Problem – aber wir alle sind von einer ganzen Menge Probleme umgeben, an deren Lösung wir arbeiten könnten. Wäre es nicht schön, wenn wir miteinander über die Probleme diskutieren könnten, die wir tatsächlich haben?
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