angriffsflächen

Eine Wahl von Friedrich Merz zum Parteivorsitzenden der CDU – und damit dann wahrscheinlichem Kanzlerkandidaten und möglichem zukünftigen Bundeskanzler – würde, schrieb Thomas Knüwer gestern in einem lesenswerten Blog-Artikel auf “Indiskretion Ehrensache” – “zu[r] Destabilisierung der Gesellschaft beitr[agen], weil er in zu vielen Gebieten nicht frei entscheiden kann ohne sich in den Ruf der Beeinflussbarkeit zu bringen”[1].

Knüwers Gedankengang: Merz biete aufgrund seines beruflichen Engagements in der Wirtschaft in den letzten 16 Jahren denen, die ihm schaden wollen, bei zu vielen Themen zu viele Angriffsflächen, als dass er sich unabhängig (i.e. sachlich) positionieren könne, ohne dabei als der Parteinahme für die Unternehmen verdächtig gesehen zu werden, für die er gearbeitet hat. Dabei geht es Knüwer ausdrücklich nicht darum, die vergangenen und aktuellen Aufsichtsrats- und Beiratstätigkeiten von Merz an sich zu be- oder gar zu verurteilen. Das eigentliche Problem sieht Knüwer vielmehr in der Instrumentalisierbarkeit dieser Tätigkeiten durch übelwollende Gegner im politischen Spektrum, die aus dem Zusammenhang zwischen möglichen zukünftigen politischen Positionen oder Entscheidungen und vergangenen beruflichen Aktivitäten beliebige Verschwörungstheorien konstruieren könnten.

Zwischen Thomas Knüwer und mir entspann sich aus Anlass dieses Artikels dann folgender Gedankenaustausch auf Twitter[2]:

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Und weiter:

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An dieser Stelle waren wir wieder bei meinem Ausgangszweifel angekommen: Der Befürchtung, dass eine Minimierung möglicher Angriffsflächen einen aggressiven politischen Diskurs nicht schwächt, sondern vielmehr eher stärkt – weil in vorauseilendem Gehorsam legitimiert. Da mich das Thema nicht logelassen hat und Twitter sich ja nicht immer für vertiefende Diskussionen eignet, führe ich meine Argumentation hier weiter aus[3].

Mein Kernpunkt: Ich halte es für prinzipiell falsch, die Eignung eines Kandidaten oder einer Kandidatin für ein öffentlich sichtbares Amt mit der Begründung in Frage zu stellen, dass der-/diejenige Eigenschaften, Erfahrungen oder Erlebnisse mitbringe, die von seinen bzw. ihren Gegnern instrumentalisiert werden könnten. Eine antizipierte Angreifbarkeit einer Person durch jene, die ihr schaden wollen, darf weder ein Grund dafür sein, dass Kandidaten auf Kandidaturen verzichten, noch ein Grund dafür, dass Wähler Kandidaten nicht wählen. Wenn Kandidaten oder Wähler auf Basis einer solchen Begründung entscheiden würden, so würden sie gerade dadurch der Entdemokratisierung des öffentlichen Raums in die Hände spielen – und zwar aus zwei Gründen.

Erstens: Wenn ein politischer Gegner Unterstellungen – ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – nutzen kann, um Kandidaten (oder auch Amtsträger) zu diskreditieren, so deutet dies auf ein fundamentales Problem im politischen Diskurs hin – und nicht auf ein Problem der Kandidaten oder Amtsträger. “Wo Rauch ist, ist auch Feuer”, ist das zeitlose Mantra von Verschwörungs- und Gerüchteverbreitern aller Couleur. Eine funktionierende Öffentlichkeit muss deshalb immer wieder die Anstrengung auf sich nehmen, faktenbasierte Kritik und falschzüngige Verleumdnung auseinanderzusortieren. Eine Öffentlichkeit, die das nicht tut, schafft einen Resonanzraum für Denunzianten, in dem jeder jedem misstraut – das Ende aller konstruktiven Diskussion, nicht nur in der Politik.

Einer potentiell angreifbaren Kandidatin aufgrund ihrer potentiellen Angreifbarkeit von einer Kandidatur abzuraten, statt die inakzeptablen Unterstellungsmechanismen an sich bloßzustellen, ähnelt dem Versuch, Gewalt gegen Frauen durch Kleidungs- und Verhaltensvorschriften für Frauen bekämpfen zu wollen – oder der jahrhundertealten Empfehlung an Juden, antisemitische Übergriffe durch Unauffälligkeit zu verhindern. Eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit muss aber die Verstöße gegen die Grundprinzipien konstruktiver politischer Debatten an sich ahnden – und darf hierfür nicht diejenigen in die Verantwortung nehmen, die zum Opfer dieser Verstöße werden. Egal wie viele Angriffsflächen jemand aus welchen Gründen auch immer bietet: Wir müssen uns als Gesellschaft einig darüber sein (oder: wieder werden), welche Art von “Angriffen” wir als Mittel politischer (oder öffentlicher) Auseinandersetzung akzeptieren wollen – und welche grundsätzlich tabu sind und bleiben sollen.

Zweitens: Wenn eine mögliche Instrumentalisierberkeit von Eigenschaften, Erfahrungen oder Erlebnissen einer Kandidatin oder eines Kandidaten durch die politischen Gegner diese tatsächlich für ihre Kandidatur disqualifizieren würde, so würde dies implizieren, dass die Betroffenen selbst weder faktisch noch kommunikativ in der Lage sind, zwischen dem objektiven Nutzen (beispielsweise) bisheriger Netzwerke und ihrer subjektiven Be-/Gefangenheit in – (beispielsweise) Seilschaften zu unterscheiden. Diese Annahme passt zu den (leider) gängigen Mustern im öffentlichen Diskurs, in denen entweder jeder/m nicht selbst Betroffenen jedes Urteilsvermögen in Bezug auf einen beliebigen Sachverhalt abgesprochen wird – à la: “Wer nicht selbst ein alleinerziehender Großonkel mit eigener Bio-Gärtnerei ist, kann nichts darüber sagen, was einen alleinerziehenden Großonkel mit eigenen Bio-Gärtnerei bewegt” – oder aber jeder/m in jeder Frage vorurteilsbehaftete Befangenheit im eigenen Lebensweltkokon unterstellt wird – à la: “Natürlich kann sie das als Frau/Managerin/Mutter von vier Kindern/SPD-Mitglied/Münchnerin/Skateboarderin/… nicht objektiv beurteilen”.

Wenn wir aber tatsächlich kollektiv unterstellten, dass niemand jemals über den Tellerrand seiner eigenen Erfahrungssuppe hinausgucken könne, wo bliebe da die zutiefst menschliche – und zugleich höchst politische – Fähigkeit, von den eigenen Interessen zu abstrahieren, die Welt durch die Augen anderer Menschen zu sehen und letztendlich auch im Geiste übergeordneter Ziele und Werte zu entscheiden und zu handeln? Und ist nicht gerade diese Fähigkeit das, was jene auszeichnen sollte, die Führungspositionen anstreben und verantwortungsbewusst ausfüllen? Und sollten nicht diejenigen, die solche Personen wählen, ihrerseits das Urteilsvermögen haben, die zu wählen, in denen sie genau diese Fähigkeit erkennen? Der politische Raum der Demokratie entsteht ja überhaupt erst dadurch, dass wir uns alle gegenseitig diese Fähigkeit zutrauen – und sie zum Einsatz bringen. Eine funktionierende demokratische Öffentlichkeit muss deshalb das objektivierende Urteilsvermögen honorieren, das Abstraktion, Perspektivwechsel und prinzipien- und wertorientiertes Handeln im Dienste des Gemeinwohls ermöglicht – und allen dabei helfen, diese Fähigkeiten in sich selbst und in anderen zu erkennen, zu fordern und beständig weiter zu entwickeln. Wer viel erlebt und erfahren hat, bietet dann nicht mehr viele Angriffsflächen für missgünstige Gegner, sondern kann vieles für viele erfolgreich in Angriff nehmen.


[1] Der vollständige Artikel ist hier [retrieved Nov 7, 2018].BACK TO TEXT

[2] Im Original hier nachzulesen [retrieved Nov 7, 2018].BACK TO TEXT

[3] Und für den Fall, dass das noch nicht hinreichend deutlich geworden ist: Es geht mir ausdrücklich nicht darum, die Kandidatur von Friedrich Merz für den CDU-Parteivorsitz zu bewerten. Eventuelle Meinungen, die ich zu dieser Frage habe, sind es nicht wert, gebloggt zu werden. Es geht mir ausschließlich um die von Thomas Knüwer aufgeworfene Frage, ob die Tatsache, dass ein Kandidat einem politischen Gegner mögliche Angriffsflächen für Verunglimpfungen bietet, für ihn selbst oder für seine möglichen Wähler ein Grund sein sollte, von der Kandidatur/Wahl Abstand zu nehmen.BACK TO TEXT

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