über den becherrand

“Und Du: Du möchtest einen Becher!”, sagte gestern auf der Gala der “Goldenen Blogger” in Berlin eine*r der vier Organisator*innen[1] zu mir. Er drückte mir einen Becher mit dem Abbild der “Goldene Blogger”-Trophäe in die Hand. Die Trophäe zeigt eine Figur unbestimmbaren Geschlechts mit Hermes-Hütchen und passenden Hackenflügelchen und einem Stern in der Hand, die auf einem Bein stehend auf einem Computerbildschirm mit angeschlossener Maus balanciert, auf dem “per aspera ad astra” zu lesen ist. Vor Beginn der Veranstaltung hatte ich einigen hinter mir sitzenden Gästen den Spruch übersetzt. Dank eines der Sponsoren erhielt jeder Besucher einen Schal mit der Aufschrift: “You’ll never blog alone”. Am Ende der Preisverleihung sangen alle gemeinsam einen umgeschriebenen Text zu der entsprechenden Fußballhymne, die – wie ich heute recherchiert habe – eigentlich aus dem im April 1945 am Broadway uraufgeführten Muscial “Carousel” von Richard Rodgers & Oscar Hammerstein stammt[2].

Bevor ich etwas dazu schreibe, was mich an den Nominierten und Preisträgern des gestrigen Abends beeindruckt hat – und was ich glaube, was wir alle daraus für unser digitales Leben lernen können, muss ich etwas ausholen. Die Preise der “Goldenen Blogger” sind – nach eigener Auskunft – der “einzige bereichsübergreifende Social Media Preis Deutschlands”[3]. Ganz unabhängig von Social Media: Ich bin davon überzeugt, dass man nicht anders als bereichsübergreifend leben kann. Niemand gehört heute nur in einen einzigen (Lebens-) Bereich. Selbst die engagiertesten Familienmenschen treiben Sport; selbst die ehrgeizigsten Sportler genießen gutes Essen; selbst die exzessivsten Genießer verdienen irgendwie Geld; selbst die Spitzengrößtverdiener verbringen Zeit mit Eltern, Kindern, Partnern oder Geschwistern[4].

In den sozialen Medien verfließen diese Bereiche immer stärker ineinander: Neben einem Facebook-Post eines Cousins über die schwere Krankheit einer lieben, alten Tante erscheint die Nachricht vom Trainerwechsel bei meinem Heimathandballverein; wenn ich weitere Informationen zum Trainerwechsel googele, wird mir Werbung für einen französischen Rotwein angezeigt, den ich vor einigen Tagen mit Freunden trank; unter dem Instagram-Post meiner Freunde, der jene Begegnung dokumentiert, taucht das Bahnhofsfoto einer Kollegin auf, die auf dem Weg zu einer Aufsichtsratssitzung in Köln war; und in demselben Moment erreicht mich eine Email derselben Kollegin, mit der sie um Verschiebung eines gemeinsamen Workshops bittet, weil ihr uralter Lieblingsonkel nach einem unglücklichen Sturz im Krankenhaus liegt.

Mit dieser Vermischung der Lebensbereiche vermischen sich auch die zugehörigen Emotionen: Die Sorge um die kranke Tante lässt mich vom Trainerwechsel mit Misstrauen lesen; das Unbehagen über den Trainerwechsel erinnert mich an das Kopfweh nach jenem Rotwein-Abend; der nachträgliche Ärger über das zu viel getrunkene Glas wird zum Neid auf den Erfolg der Kollegin; der Neid macht mich erst erleichtert, dass sie den Workshop absagen muss, dann dankbar für die robuste Gesundheit meiner eigenen Familie. Je mehr die Bereiche ineinander verschwimmen, um so mehr verschwimmen auch Ursache und Wirkung meiner Emotionen[5].

Doch zurück zu den “Goldenen Bloggern”: Die Preise der “Goldenen Blogger” wurden in diesem Jahr in 20 19 18 Kategorien verliehen. Mit diesen Kategorien, die (mit einigen Ausnahmen) jedes Jahr neu festgelegt werden, teilen die Organisator*innen die unübersichtliche Bereichslandschaft der sozialen Medien in handhabbare Abstimmungsfelder – vom “Besten Hashtag des Jahres” über “Blogger*in ohne Blog”, “Bester Podcast” oder “Food- und Weinblogger” bis zu “Blogger*in des Jahres”. Und damit könnte es einem flüchtigen Beobachter scheinen, als ob die “Goldenen Blogger” durch die Preisvergabe in Kategorien ihrem eigenen bereichsübergreifenden Anspruch eigentlich nicht gerecht würden – was vermutlich sogar auch gar nicht dramatisch wäre.

Ich glaube allerdings, es ist umgekehrt: Die “Goldenen Blogger” – und zwar Organisator*innen, Nominierte, Preisträger*innen, Akademiemitglieder und Zuschauer*innen – haben in dem, was sie in den vorgestellten Social Media Aktivitäten wertschätzen, eine – wenn nicht sogar: die – Essenz dessen begriffen, was bereichsübergreifendes Leben im digitalen Zeitalter aus-, möglich und lebenswert macht. Über alle Beiträge hinweg gibt es vier große und großartige Gemeinsamkeiten, die nichts weniger sind als Tugenden des digitalen Lebens:

  1. Keine*r ist oberflächlich.
  2. Jede*r ist engagiert.
  3. Alle lieben ihr Publikum
  4. Niemand verstellt sich.

(Wenn alle online – und möglicherweise auch offline – so lebten – oh, wow…).

Keine*r ist oberflächlich: Jede*r einzelne Blogger*in steckt bis über alle Ohren in der Materie, über die sie/er bloggt – vom Fuß- (oder Hand-) ball über verpackungsfreies Einkaufen bis zu Politik der Bundeskanzlerin. Flachschwätzer*innen, Schaumschreiber*innen oder Dünnsinnblogger*innen gibt es hier nicht. Wer bei den “Goldenen Bloggern” ein Mikrofon hingehalten bekommt, hat etwas zu sagen. Und: Wer etwas zu sagen hat, findet im digitalen Raum seinen Ort und seine Resonanz. Das wiederum ist hoffentlich ein starkes Zeichen gegenüber jenen, die fürchten, dass digitale Kanäle von denen überflutet werden könnten, die eigentlich von nichts eine Ahnung haben. Wissen zählt.

Jede*r ist engagiert: Die Blogger*innen der “Goldenen Blogger” stecken unendlich viel persönliche Zeit, Energie und emotionalen Einsatz in ihre Projekte – vom Engagement gegen Homöopathie über Lebenstipps für Mädchen bis zum Verständnis für Menschen mit Down-Syndrom. Faulenzer*innen, Lethargiker*innen oder mechanistische Abarbeiter*innen gibt es hier nicht. Die “Goldenen Blogger” setzen sich mit Haut, Haar, Hirn und Herz für ihre Themen ein. Und diese Begeisterung kommt an, steckt an und spornt andere an – auch auf digitalen Wegen. Das sollte jenen zu denken geben, die unken, dass wer sich im Netz bewegt den Anschluss an die “echte” Welt verlöre. Leidenschaft wirkt.

Alle lieben ihr Publikum: Alle Blogger*innen der “Goldenen Blogger” sprechen mit Wärme, Respekt und tiefer Zuneigung von ihren Communities und von ihren Followern – von den “Celebrities” über die Tagebuchblogger*innen bis zu den Twitterern. Keine*r spricht abfällig über die, mit denen er/sie im Netz interagiert – und selbst gelegentliche Ausfälligkeiten in Form unerwünschter Fotos bestimmter Körperteile, unflätiger Kommentare oder wüster Beschimpfungen werden humorvoll bis mitleidig wegschultergezuckt. Das sollte jene eines Besseren belehren, die das Netz zu einem Morast widerlicher Schlamm- und Schleimspeier verrotten sehen. Liebe stärkt.

Niemand verstellt sich: Die Blogger*innen der “Goldenen Blogger” sind ausnahmslos authentisch und machen sich selbst und anderen nichts vor. Das, was sie mit der Netzgemeinde teilen, ist echt und ehrlich (was sicher nicht bedeutet, dass jede*r auch Lebensbereiche pflegt, die dem Netz vorenthalten werden) – vom surreal schönen Weltraumfoto auf Instagram über die “Blocker des Jahres” bis zu den ergreifenden Blogtexten des Jahres über’s Sterben, Lieben und (Nicht-) Gebären. Das sollte jenen eine Lehre sein, die meinen, das Internet mit Marketing-Methoden verführen zu können. Wahrhaftigkeit gewinnt.

Vielleicht verkörpert ja am Ende auch die “Goldene Blogger”-Trophäe auf meinem Becher genau diese vier Tugenden? Auf der Basis tiefen Wissens humanistischer und digitaler Bildung, voller durchtrainierter Leichtigkeit und ständig unter Spannung (schon um die Balance nicht zu verlieren), freudig die Welt um sich und den Sternenhimmel über sich umarmend – und so gnadenlos authentisch, wie nur ein nackter Mensch sein kann? Und wem das zu viel in die Figur hineininterpretiert: Für mich war der Abend ein großartiger Anstoß für einen weiten Blick über den Becherrand.

Danke, “Goldene Blogger”!


[1] Die hier verwendete Schreibform ist meine ausdrückliche Hommage an die gerade erfolgte Wahl des “Gendersternchens” zum Anglizismus des Jahres – mehr dazu in der Laudatio von Anatol Stefanowitisch hier [retrieved Jan 29, 2019].BACK TO TEXT

[2] Es würde vom Thema abführen, hier darüber zu reflektieren, wie aus dem Trostlied der Freundin Nettie für die Protagonistin Julie nach dem Selbstmord ihres Ehemanns Billy (das Julie vor Tränen nicht mitsingen kann und das dann am Ende des Stücks bei der Graduation ihrer Tochter in Anwesenheit des unsichtbar auf die Erde zurückgekehrten Billy erneut gesungen wird) eine Fussballhymne wurde. Wikipedia weiß – wie immer – mehr über das Musical und ein Ausschnitt aus dem zugehörigen Film von 1956 ist hier [retrieved Jan 29, 2019].BACK TO TEXT

[3] Alles über den Preis, die diesjährigen Nominierten sowie die Preisträger, das Team und die Geschichte der Veranstaltung ist auf dieser Seite zu finden [retrieved Jan 29, 2019].BACK TO TEXT

[4] Dieses (hier massiv verküzt illustrierte) Phänomen moderner Lebenswelten, in dem diese sich von den konzentrisch angeordneten Lebenswelten früherer Jahrhunderte unterscheiden, hat Georg Simmel in seiner “Soziologie” (1908) in aller Komplexität beschrieben, u.a. in dem zeitlos schönen Kapitel “Die Kreuzung sozialer Kreise”.BACK TO TEXT

[5] Natürlich könnte sich auch eine positive Spirale sich gegenseitig beeinflussender Emotionen ergeben – das wäre dann nur ein anderes Beispiel. Über die veränderte Rolle von Emotionen in Kommunikation und Zusammenleben in digitalen Zeiten habe ich im Sommer eine mehrteilige Serie von Blog-Artikeln geschrieben – der erste ist hier [retrieved Jan 29, 2019] .BACK TO TEXT

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